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Auschwitz überlebt – und dann?
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
Entschädigungsakten Rosemarie Höllenreiner
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Rosemarie Höllenreiner, verkleidet im Fasching, ca. 1953. Am linken Unter-
arm ist die eintätowierte KZ-Nummer zu erkennen.
Foto: Peter Höllenreiner
Als die Familie im März 1943 nach Auschwitz deportiert
wurde, war sie bereits ein Schulkind und besuchte die 1.
Klasse. Erst zweieinhalb Jahre später, im Herbst 1945,
konnte sie wieder eine Schule besuchen, wieder ging sie in
die Münchner Volksschule in der St.-Martin-Straße. Im
Entlassungs-Zeugnis vom 13. Juli 1950 wird sie als „eine
sehr anständige, fleißige Schülerin“ beschrieben. Sie hat
gute Noten: Alle Fächer schließt sie mit „befriedigend“
oder „gut“ ab. Unter Staatsangehörigkeit ist „Deutsch“
eingetragen, die Religion „röm. kath.“, und auch der
Beruf des Vaters ist im Zeugnis vermerkt: „Tochter des
Fuhrunternehmers Josef Höllenreiner“. Nichts im Zeug-
nis deutet daraufhin, dass sie die ersten Jahrgangsstufen
versäumte.
11 BEG 46141
Ihrem Antrag auf Entschädigungsleistung liegt ein Aus-
zug aus dem Schülerbogen bei. Er zeigt ihren schulischen
Lebensweg bis 1950 auf, wurde vom Schulrat und der
Klassenlehrerin unterzeichnet.
„München vom 2. September 1942 bis 08.03.1943
KZ Auschwitz vom 8. März 1943 bis 15.09.1945
München vom 17. September 1945 bis 13. Juli 1950.“
Dieser Auszug aus dem Schülerbogen wurde vom
Stadtschulamt der Landeshauptstadt München am 5. Mai
1960 an die Bayerische Landesentschädigungsbehörde per
Post gesandt. Hatte im Jahr 1960 das Stadtschulamt Mün-
chen die Vorstellung, dass im KZ Auschwitz ein Schulbe-
such möglich gewesen wäre? Oder listete der zuständige
Beamte die Lagerhaft auf, weil damit der Fürsorgepflicht
des Staates, nach der jedes Kind nicht nur die Pflicht, son-
dern auch das Recht auf einen achtjährigen Schulbesuch
hatte, Genüge getan war?
Für ihren Antrag auf „Wiedergutmachung“ muss
Rosemarie Höllenreiner darlegen, welche gesundheitli-
chen Nachwirkungen die KZ-Haft für sie hatte. Sie muss
beweisen, dass die gesundheitlichen Einschränkungen
durch die KZ-Haft bedingt waren, und nicht schon vor
der Verfolgung bestanden. Daher beginnt der Wortlaut
ihrer eidesstattlichen Erklärung vom 4. Juni 1962 mit der
Schilderung ihres Gesundheitszustandes vor 1943:
„Ich war als Kind bis zu meinem 7. Lebensjahr gesund
und von kräftiger körperlicher Verfassung. Im Alter von
7 Jahren kam ich zuerst in das Lager von Auschwitz.
Während meiner Inhaftierung von 1943–1945 magerte
ich zusehends ab. Gegen Ende 1943 traten erstmals
Beschwerden in den Gliedern auf. Bei jeder Bewegung
der Arme und Beine empfand ich Schmerzen in den
Gelenken und Muskeln. Diese Schmerzen, zu denen
schließlich laufende Kopfschmerzen kamen, verstärk-
ten sich so, dass ich mich zeitweise nicht mehr bewegen
konnte.
Nach der Befreiung besserte sich mein Zustand etwas.
Dies war jedoch nicht von langer Dauer. Bereits ab 1947
nahmen die Schmerzen wieder so zu, dass ich mich lau-
fend in ärztliche Behandlung begeben musste. Ich wurde
mit Kuren und Medikamenten behandelt, ohne daß bis-
her eine Besserung eintrat. Bis in die jüngste Zeit lag ich
oft wochenlang im Bett. Dabei haben die Kopfschmerzen
unvermindert angehalten. In den Fingerspitzen fühle ich
ständig schmerzhafte Stiche.“
Drei Zeugen bestätigen ihr eidesstattlich, dass sie als
Kind vor der Inhaftierung im Konzentrationslager ein
„gesundes Kind“ war, „das während seiner ersten 7 Jahre
nie krank war“. Rosemarie ist 29 Jahre alt und muss Gut-