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Auschwitz überlebt – und dann?
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
in die Akten des Landesentschädigungsamtes.
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Der Beamte
am Telefon ist freundlich. Die Akten seien dick. Ich werde
länger zu lesen haben. Erfahrungsgemäß brauchen Leute,
die diese Akten einsehen wollen, immer länger, meint er.
Der Verwaltungsapparat funktionierte damals, als Peter
Höllenreiner und seine Familie in der Zeit der NS-Dik-
tatur ins Konzentrationslager deportiert wurden. Und er
funktioniert wieder nach Paragrafen, als sie nach 1945 in
der jungen Bundesrepublik Deutschland eine Entschädi-
gung beantragten. Wäre zur Zeit des NS-Regimes nichts
ordnungsgemäß gelistet, protokolliert, aufgenommen,
verzeichnet worden, hätte es dann keine Wiedergutma-
chung gegeben? Das frage ich mich, als ich von dicken
Aktenstapeln höre. Wie kann ein Schaden, der der Seele
eines Kindes zugefügt wird, entschädigt werden?
Ein fast meterhoher Aktenberg liegt vor mir. Rote,
gelbe, grüne Pappordner, alt vergriffen, auf jedem Pappde-
ckel sind handschriftlich die Aktenzeichen darauf gemalt.
Die Aktendeckel sind selbst Teil der Geschichte. Sie tragen
jahrzehntelangen Schriftverkehr in sich, sie beinhalten die
Verwaltung von Menschen, die den Holocaust überlebten.
Beim stundenlangen Lesen macht sich Abstumpfung
in mir breit. Der zehnte Krankenbericht, der die langan-
dauernde Schädigung, den die KZ-Haft zur Folge hat,
belegt. Oft sprechen Ignoranz und Arroganz aus den Gut-
achten. Ein ewiges Beweisen-Müssen mithilfe von Anträ-
gen, unzähligen Schreiben, Bescheinigungen, Formularen,
Attesten. Anträge werden abgelehnt, Widerruf eingelegt,
die Zuständigkeiten der Gerichte wechseln. Die Familien-
mitglieder waren dieser Prozedur ausgesetzt, um eine Ent-
schädigung in Form einer Rente und/oder einer einmali-
gen Geldleistung zu erhalten. Die Entschädigungen sind
kategorisiert nach „Schaden an Freiheit“, exakt berechnet
nach der Dauer der nachgewiesenen Lagerhaft, „Scha-
den an Körper und Gesundheit“, „Schaden im berufl.
Fortkommen“, „Soforthilfe“ und dann gibt es noch ein
ankreuzbares Kästchen mit dem Kürzel „BEG-SG“: Bun-
desentschädigungsgesetz – Schlussgesetz. Es klingt, wie
wenn der Gesetzgeber damit sagte: Jetzt ist Schluss mit den
Gesetzesnachbesserungen. Jetzt sind genug Entschädigun-
gen bezahlt. Es hört sich an wie: Allem ist Genüge getan.
Abends ruft mich Peter Höllenreiner an. Er habe wieder
Bilder. Seit wir die Gespräche führen und er mir von ande-
ren Familienmitgliedern erzählt, sammelt er bei seinen Ver-
wandten Bilder und Unterlagen. Ich radle zu ihm. Er erzählt:
Die Wiedergutmachungsbehörde habe seinen Eltern damals
7 Landesentschädigungsamt München: EG 4827/4829/4580/4828/4830/4831.
gesagt: „Wenn ihr unterschreibt, bekommt ihr 25 Prozent
Erwerbsminderung anerkannt und ihr braucht keine ärzt-
lichen Untersuchungen machen lassen.“ Alle willigten ein,
denn die Leute auf der Behörde hätten gesagt: „Sonst kann
es sein, dass ihr gar nichts bekommt.“ Später musste dann
jeder gegen die damalige Einstufung klagen.
Bei den Worten „ärztliche Untersuchungen“ horche ich
auf. Auch in den Konzentrationslagern waren es Ärzte, die
Selektionen überwacht hatten. Versuche an den Gefange-
nen und Zwangssterilisierungen durchgeführt hatten. Vor
diesem Hintergrund wird klar, dass sich keiner der Fami-
lienangehörigen freiwillig einer amtsärztlichen Untersu-
chung unterziehen wollte.
Peter Höllenreiner war noch nicht schulpflichtig, als
er im Konzentrationslager war. Er hatte keine Versäum-
nisse an Schuljahren und keinen „Schaden an beruflichem
Fortkommen“ vorzuweisen, ein entsprechender Antrag
wurde 1960 abgelehnt. Es gibt einen Antrag auf Entschä-
digung wegen „Schaden an Körper oder Gesundheit“,
datiert aus dem Jahr 1966. Peter Höllenreiner ist 27 Jahre
alt, Vater von drei Kindern und gibt zu Protokoll, dass
er bis ca. 1950 an starken Kopfschmerzen litt, außerdem
an „Schwindelanfällen, Schlaflosigkeit. Rheuma, star-
ken Beckenschmerzen, zeitweise Sprachstörungen.“ Die
amtsärztliche Untersuchung durch das staatliche Gesund-
heitsamt Fürstenfeldbruck bestätigt seine Angaben: „In
der Haft Platzwunde am Hinterkopf, Fleck- oder Bauch-
typhus? Seit 1957 Apendectomie [Blinddarmentfernung,
Anm. d. Verf.], seit Haftentlassung ärztl. Behandlung
wegen migräneartiger Kopfschmerzen, Wetterfühligkeit,
Schwindelanfälle, Schlaflosigkeit und Kreuzschmerzen.
Befund: nervöser Erschöpfungszustand, vegetative Dysto-
nie, Untergewicht.“
Alles dürfe ich nicht schreiben über ihn, sagt er mir, als
ich ihm von dicken Aktenstapeln erzähle. Mehr solle ich
in seiner Akte auch nicht lesen. Ich frage ihn, ob er denn
selbst Einblick in die Akten nehmen möchte. „Nein, nur
nicht“, wehrt er ab. Niemand erinnert sich gern an eigene
Verfolgung, Recht- und Hilflosigkeit.
Wer spricht freiwillig über erlittene Demütigungen?
Wenn jemand darüber spricht, dann in verschlüsselten
Sätzen: „Ich war KZ-Häftling“, ist zum Beispiel ein ver-
schlüsselter Satz. Es bleibt dem Hörer selbst überlassen,
welche Bilder er damit verbindet. Ein weiterer Schlüs-
selsatz begegnete mir im Gespräch mit einem Histori-
ker: „Die psychische Dimension fand lange keine Aner-
kennung vor Gericht“
,
sagte dieser. Damals verstand ich
nicht, was er meinte. In den Aktenbergen entblättert sich
die Aussage des Historikers: Psychische Folgen von Ver-