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Auschwitz überlebt – und dann?

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

Beste Adresse

„Ich habe ein Auge für Antiquitäten gehabt. Ich habe es

nicht gelernt, aber ich sah sofort, was alt und was neu ist.

Ja, das ist so eine Gabe. Das war halt meine, jeder hat

irgendeine Gabe. Ich habe mit Null angefangen und gear-

beitet, wirklich gearbeitet, muss man sagen. Auch wenn

man so meint, das wäre keine Arbeit, aber ich habe bis

nachts um zwölf Uhr oft gearbeitet.“

Der 21-jährige Peter heiratet im Februar 1961. Von

seinem Schwiegervater, einem Postbeamten, leiht er sich

tausend Mark, kauft sich ein Auto und geht damit „ins

Geschäft“: Er kauft Zinnkrüge, Antiquitäten auf, handelt

damit, verkauft sie wieder. Mit dem Auto fährt er über

Land, fragt auf Bauernhöfen nach Antiquitäten. Oft,

wenn er klingelt, bleibt die Tür verschlossen. Er sieht

nur, wie sich der Vorhang bewegt. Fortan klingelt er und

verschwindet schnell neben der Tür, bis ein neugieriger

Hofbewohner sie öffnet. „Grüß Gott, ich komm’ aus

München, ihr habt doch vielleicht …“ Seine angenehme

Stimme, seine bayerische Sprache verhelfen ihm, mit den

Leuten ins Gespräch zu kommen.

„Ich kann mich an keinen meiner Verwandten erin-

nern, der nicht gut angezogen gewesen wäre, von sich

aus waren die schon so. Einen kannte ich persönlich sehr

gut, es war Onkel Biggi, wie er mit richtigem Namen

hieß, kann ich nicht sagen. Wenn er gekommen ist, hat

er immer sehr schöne Schuhe getragen. Hab’ ich zu ihm

g’sagt: ,Sind des schöne Schuh.‘ – ,Mei Bua, die hab’ ich

schon 20 Jahr’‘ – wie neu waren die. Und dazumal trug

er schon einen Kaschmirpullover, er war eine wahnsinnig

elegante Person. Er geht mir nie aus dem Kopf. Und dem

komm’ ich ein wenig nach.“

Eines Tages klingelte Onkel Biggi an seiner Haustür. Als

er öffnet, drückt er ihm ein Stück Stoff, brauner Kaschmir,

in die Hand. Er sagte nicht viel dazu. Aber Peter verstand:

„Mach was d’raus“, bedeutete es für ihn.

Vielleicht ist das Geheimnis seines beruflichen Erfolgs

auch: Er streifte seine Vergangenheit ab. Er änderte sei-

nen Namen, als das Verfolgungsschicksal seiner Familie

über die veröffentlichte Lebensgeschichte seines Bruders

Hugo bekannt wurde. Er ließ seine eintätowierte Num-

mer auf seinem Arm entfernen, nur in Spuren war sie

noch zu erkennen. Ich habe mich nicht verschrieben. Sie

lesen richtig: Sie war nur mehr anhand kleiner Punkte zu

erkennen. Jetzt ist alles anders. Bei unserem letzten Treffen

zeigt er mir seinen Arm: Er hatte seine Nummer wieder

eintätowieren lassen.

Wie wird Mann zum Sinto, Frau zur Sintezza?

„Wenn ich nur endlich sagen könnte, ich bin ein Italiener,

ich bin ein Russe, ich bin ein Pole, ist doch wurscht, was –

dann hätt’ ich endlich mei’ Ruh. Aber wenn ich sag’, ,ich

bin Deutscher‘, dann ist es schon passiert: ,Ah geh’ – die

Farb’ die du host. Und die langen Finger, die du host …‘“

„Sinti“ und „Roma“ sind die Namen, die sich die

Bevölkerungsgruppen europaweit heute selbst geben. Nur

Peter Höllenreiner, er, der den versuchten Genozid über-

lebte – zählt sich nicht dazu. In unseren Gesprächen kri-

tisiert er eine neue Politik verwalteter Minderheiten

.

„Ich

bin Deutscher, wie jeder andere auch, der den deutschen

Pass hat“

,

sagt er. Als Bundesbürger, als Deutscher möchte

er wahr genommen sein, nicht als Sinto. Er sieht wenig

Sinn darin, einen Minderheitenstatus zu tragen. Er, der

die rassistische Verfolgung nur knapp überlebte, scheut

sich vor dem neuen Stempel.

Und außerdem – eigentlich sei er ja Jude. Die Groß-

mutter seiner Mutter war Jüdin. So berichtet es die münd-

lich überlieferte Familiengeschichte. Eines Tages erfuhr er,

Peter Höllenreiner und seine Frau am Hochzeitstag, München 1961

Foto: Peter Höllenreiner