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Auschwitz überlebt – und dann?

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

„Das kann man nicht erzählen …“ – eine Kindheit

in Gefangenschaft

„Ich heiße Peter. Meine Mutter hat in der Zeit einen

Film gesehen, als sie mit mir schwanger war. Es ging um

einen ungarischen Freiheitskämpfer, er hieß Janoschek.

Und sie sagte: ,Mein Junge heißt Janoschek‘. Den Namen

haben wir aber nicht nennen dürfen. Ich heiße Peter, aber

meine Mutter hat immer ,Janoschek‘ g’sagt. Das war ihr

Wunsch.“

Sein Vater hatte ein Fuhrunternehmen, seine Mutter

war 34 Jahre alt, als sie ihr sechstes Kind am 17. März

1939 in der Maiklinik in München auf die Welt brachte.

Seine Geschwister Emma, genannt Frieda, Manfred,

Hugo, Rosemarie und Rigo wohnten mit ihren Eltern

im Stadtteil Giesing in München. Auch die Brüder sei-

nes Vaters wohnten mit ihren Familien dort, wie auch

der Großvater. Die Großmutter kannte Peter nur vom

Erzählen, sie war kurz vor seiner Geburt gestorben.

Die Deisenhofener Straße, wo ihr Haus stand, war von

Wiesen umsäumt. Die Familie war in den 1920er Jah-

ren aus Franken nach München gezogen. Sie handelten

mit Pferden, übernahmen Fuhrwerksdienste, auch für

die daneben ansässige Margarine-Firma. Der Großvater

hatte eine Puppenbühne, mit der er in Münchner Schu-

len auftrat und über Land zog. Er musizierte gern mit

der Geige und der Drehorgel, doch daran erinnert sich

Peter kaum. Es sind dies die Erinnerungen seines älteren

Bruders Hugo. 

2

Erinnerungen an eine unbeschwerte Kindheit gibt es

für Peter nicht, er war zu klein, als dass er sie hätte im

Gedächtnis bewahren können, als es sie noch gab. Nach

der Ideologie und den Plänen der damals regierenden

Nationalsozialisten hatte der kleine Junge keine Lebens-

berechtigung. Zum Zeitpunkt seiner Geburt waren sein

Tod und der seiner Angehörigen auf dem Papier bereits

beschlossene Sache. Im Dezember 1938 schrieb Himmler

einen Runderlass zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“

und verlangte darin eine „endgültige Lösung“, die „aus

dem Wesen dieser Rasse heraus“ erfolgen müsse. Drei

Jahre zuvor wurden Sinti und Roma bei den Nürnberger

Rassegesetzen als „außereuropäische Fremdrasse“ in der

gesetzlichen Behandlung den Juden gleichgestellt.

Am frühen Morgen des 8. März 1943 ist Janoscheks

Kindheit zu Ende, dabei hat sie noch gar nicht begonnen,

es ist neun Tage vor seinem vierten Geburtstag. Polizisten

2 Siehe Anja Tuckermann: „Denk nicht, wir bleiben hier!“ Die Lebensge-

schichte des Sinto Hugo Höllenreiner. München 2005. Hugo Höllenreiner

verstarb im Jahr 2015.

reißen ihn aus dem Schlaf, nehmen die Familie gefangen

und bringen sie aufs Polizeipräsidium in der Ettstraße.

Nach fünf Tagen Haft in der überfüllten Sammelzelle

bringen die Polizisten sie zu einem Gleis. Ein Viehwaggon

wartet auf sie.

Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ist bis

heute der Inbegriff menschlicher Grausamkeit. Es ist der

Ort, an dem Menschen andere Menschen ihrer Würde

beraubten und sie planmäßig töteten, folterten, sie an

beabsichtigter Unterernährung, mangelnder Hygiene,

Krankheiten und Seuchen sterben ließen. KZ-Ärzte

führten medizinische Versuche an ihnen durch, nahmen

Sterilisierungen vor. Auschwitz ist ein Ort, über dem der

Rauch aus den Krematorien stieg, das Konzentrationslager

in Polen, an dem Massenverbrechen und der Genozid

Wirklichkeit waren, das sogenannte Vernichtungslager.

Im Februar 1943 entstand das „Zigeunerlager Ausch-

witz“ als Abschnitt B ll e des Vernichtungslagers Ausch-

witz-Birkenau. Bis August 1944, als die SS-Wachmann-

schaften es aufgrund des Vormarsches der Roten Armee

räumten, waren über 22.000 Personen ins „Zigeunerlager-

Auschwitz-Birkenau“ deportiert worden.

Josef und Sophie Höllenreiner und ihre sechs Kinder

überlebten den Völkermord. Im Frühjahr 1945 kamen sie

in das zerstörte München zurück nach Giesing.

Die Bescheinigung des Internationalen Komitees des

Roten Kreuzes vom 24.10.1966 an das Landesentschädi-

gungsamt nennt die Ankunftsdaten von Peter Höllenrei-

ner in den verschiedenen Lagern:

„Bescheinigung über KZ-Aufenthalt:

KL Auschwitz am 18.03.1942 [richtig: 1943 Anm. d. V.]

KL Ravensbrück August 43 [richtig: 1944 Anm. d. V.]

KL Mauthausen Januar 1945

KL Bergen-Belsen 30.01.45

Befreit Mai 1945“ 

3

Peter Höllenreiner hat kaum Erinnerungen an die Zeit in

den Lagern, es sind nur Bruchstücke, die vereinzelt in den

Gesprächen aufscheinen. Ich frage nicht mehr danach,

denn die wenigen Erzählungen reichen, um das Ausmaß

der Traumatisierung zu erkennen, die sein Leben prägen.

Jede Erinnerung kann bedeuten, dass die damalige Angst

wiederkommt, von der er immer wieder sagt: „Das kann

man nicht erzählen.“

3 BEG 46139.