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Auschwitz überlebt – und dann?

Einsichten und Perspektiven 1 | 16

Peter Höllenreiner überlebte als Kleinkind die Konzentrationslager Auschwitz,

Ravensbrück, Mauthausen und Bergen-Belsen. 1945 kehrt er als Sechsjähriger

zurück in seine Geburtsstadt München. Seine Schulzeit beginnt und die Welt

begegnet ihm, als ob nichts gewesen wäre. „Hinter, in die letzte Bank!“, heißt

es in der Schule. Die Ausgrenzung geht weiter. Im Alter von 73 Jahren erzählt

Peter Höllenreiner erstmals über sein Leben nach 1945 bis heute. Als Biografin

gebe ich seine Erzählungen und die heutige Begegnung mit ihm wieder. Aus-

züge aus den Entschädigungsverfahren zeigen den staatlichen Umgang nach

1945 mit Opfern der rassistischen Verfolgung als „Zigeuner“ und geben Zeug-

nis für die Dauer- und Folgeschäden von Verfolgung, Lagerhaft und Zwangs-

sterilisierung. Peter Höllenreiner sieht sich als Teil seiner Familie, daher erzählen

die Aktenauszüge auch vom Leben seiner verstorbenen Geschwister. 

1

Prolog

„Eines Tages kam ein Lastwagen, der hat uns alle mitge-

nommen. Meine Eltern und uns sechs Kinder. Sie brachten

uns in die Ettstraße, das ist die Polizeiwache, dort waren wir

ein paar Tage in einer Gefängniszelle. Wir sind dann her-

ausgekommen von dort und mussten in einen Zug einstei-

gen. Das waren Güterwagen, mit denen man die Viecher

transportiert. Jetzt müsste ich sie anlügen. Ich weiß nicht,

in welches Lager wir zuerst gekommen sind. Es waren vier

verschiedene Lager und Auschwitz war das Vernichtungsla-

ger, mehr oder weniger. Dort sind sie nur zum Verbrennen

hingekommen. Das war so Mitte 1942 – oder, das kann

ich auch nicht mehr so genau sagen – mein Vater und

meine Mutter haben nie darüber gesprochen, nur immer,

was man so raushört. Sie wollten das gar nicht so …

Haben Sie an den Abtransport irgendeine Erinnerung –

als Dreijähriger?, frage ich.

Nein, ich habe überhaupt keine Erinnerung daran.

Ich kann mich nur erinnern, dass ich, nachdem wir

schon heraußen waren, als ich schon größer war, wenn

ein Zug gekommen ist, wenn ich zum Bahngleis müssen

hab’ und – tschh, tschh, tschh – da hab’ ich immer Angst

gekriegt.

Haben Sie dann geschrien?

1 Dieser Beitrag stellt einen Auszug aus dem ebook „Der Junge aus Ausch-

witz … eine Begegnung. Das Leben des Münchner Sinto Peter Höllenreiner

nach 1945“, München 2015, hg. von Maria Anna Willer, dar. Die in Anfüh-

rungszeichen gesetzten Textteile kennzeichnen Passagen aus Interviews

mit Peter Höllenreiner.

Nein, ich hab so Angst gekriegt. So Angstgefühle gekriegt.

Ich hab – das war nach dem Lager – da hab ich, ich weiß

nicht wie lang, immer in der Nacht durch und durch

geschwitzt. Und habe immer gedacht, meine Mutter ist

nimmer da. Und hab immer geweint in der Nacht. Meine

Mama hat mich dann immer wieder genommen. ,Bub,

was hast?‘ – Ich hab’ nie was g’sagt.“

Peter Höllenreiner heute

Foto: Roberto Paskowski