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Auschwitz überlebt – und dann?
Einsichten und Perspektiven 1 | 16
fiebererkrankung, die Manfred Höllenreiner in Auschwitz
in vier Wochen Bewusstlosigkeit durchlebte, sei keine
Hirnschädigung geblieben. Und die psychischen Folgen
einer Zwangssterilisierung seien kein Grund für einen
Wiedergutmachungsanspruch:
„In der Entschädigungssache Manfred Höllenreiner ./.
Freistaat Bayern beantrage ich, die Klage als unbegründet
abzuweisen, vorsorglich Gewährung von Vollstreckungs-
schutz gemäß §713 /II ZPO.
Das fachärztliche Gutachten vom 25.02.1957 stellt
ausdrücklich fest, dass eine Hirnschädigung beim Kläger
nicht vorliegt. Für die auf seelischem Gebiete liegenden
Sterilisationsfolgen beim Kläger kann ein ursächlicher
Zusammenhang nicht anerkannt werden. Ich verweise auf
das gerichtsbekannte Gutachten von Prof. Kretschmer;
außerdem weise ich auf die Entscheidung des BGH vom
29.02.1956 – IV ZR 352/54 – hin, wonach aus Rechts-
gründen ein Anspruch des Klägers nicht besteht. 8. Juli
1957 gez. Regierungsrat Dr. Lorenz“.
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Doch am 1. Oktober 1957 entscheidet das Land-
gericht I entgegen dieser Empfehlung für die Anerken-
nung der „Körper- und Gesundheitsschäden“ als „verfol-
gungsbedingt“. Manfred Höllenreiner erhält eine kleine
Rente zugesprochen.
Rund 39 Jahre später, am 22. April 1996, schreibt
Manfreds Schwester Emma an das Landesentschädigungs-
amt wegen Verschlimmerung seines Gesundheitszustan-
des. Zweimal besucht Manfred Höllenreiner am 13. April
1997 und am 16. Januar 1998 daraufhin den bestellten
Gutachter. Aus den Berichten ist zu entnehmen: Man-
fred Höllenreiner leidet zunehmend unter Albträumen,
Raumenge und er ist zum sozialen Außenseiter geworden.
Der Gutachter bringt plötzlich eine angebliche „Min-
derbegabung“ des Antragstellers ins Spiel, was er damit
begründet, dass Manfred Höllenreiner noch vor seiner
Inhaftierung ins KZ Auschwitz im Jahr 1942, drei Jahre
nach seiner Einschulung, in die Hilfsschule „überführt“
worden sei. Diese Minderbegabung im intellektuellen
Bereich habe die spätere seelische Verarbeitung der erlit-
tenen Verfolgung erschwert und zum heutigen Gesund-
heitszustand beigetragen. Der Antrag auf Leidensver-
schlimmerung wird abgelehnt, denn die Minderbegabung
habe bereits vor der Lagerhaft bestanden.
Der Landesverband Deutscher Sinti und Roma schaltet
sich ein und legt dar, was es bedeutete, in der Zeit des
10 Schreiben der Finanzmittelstelle München des Landes Bayern an das Landes-
entschädigungsamt v. 08.07.1957. BEG 46138.
Nationalsozialismus als sogenanntes „Zigeunerkind“ auf
eine deutsche Schule zu gehen:
„Neben der sozialen Ausgrenzung durch ihre von der
NS-Rassepropaganda beeinflussten Mitschüler waren
Kinder aus Sinti-Familien staatlichen Repressalien (Fest-
schreibung, etc.) unterworfen. Unter diesen Bedingun-
gen kann auf keinen Fall von einem auch nur annähernd
chancengleichen Schulbesuch ausgegangen werden.“ Die
angebliche „intellektuelle Minderbegabung“ sei mit dem
Hintergrund der damaligen rassistischen Ausgrenzung
nicht haltbar. Manfred Höllenreiner wird auf diesen Ein-
spruch hin erneut „begutachtet“, diesmal von einem Pro-
fessor der Medizin, der ihn wieder nach seiner Lebens-
und Leidensgeschichte befragt. Jede Wieder-Erinnerung
bedeutet eine Retraumatisierung. Manfred Höllenreiner
kann nicht mehr, will nicht mehr ausgefragt werden nach
seinen Erinnerungen. Der Professor sollte es wissen, doch
anscheinend kennt er die Vorgeschichte, die vielen alten
Gutachten nicht. Er befragt ihn wieder und wieder.
„Herr Professor, ich leide schon seit Jahren an Träumen
und Schwitzen. Mir geht das KZ nicht aus dem Kopf, ich
kann keinen Film anschauen vom KZ, von Jahr zu Jahr
wird es schlechter, und dann die Träume …“. (Auszug aus
dem Anamnesegespräch.)
Der Arzt fragte weiter nach den schlimmsten Erlebnis-
sen für ihn während der Verfolgungszeit: „Das ganze KZ
war schlimm, das kann man nicht erzählen, […] (Ich habe
gesehen) wie sie Leute erschossen haben und erschlagen,
wie sie sie aufgehängt haben, wie sie die Leichen ins Kre-
matorium gebracht haben, da habe ich sie (die Leichen)
hingefahren. In Ravensbrück haben sie mit mir Versuche
gemacht: Fleckheber eingespritzt.“
Der Medizinprofessor will wissen, wie die Versuche
gemacht wurden und von welchem Arzt, doch nun gibt
Manfred Höllenreiner keine Antwort mehr. Der Arzt
schreibt weiter: „Alle diese Angaben musste ich mehr oder
mühsam aus Herrn H. herausholen, und am Ende der
Exploration, die 55 Minuten dauerte, verstummte er prak-
tisch.“ Beim nächsten Untersuchungstermin am 23. Juni
1999 möchte Manfred gar nichts mehr erzählen. Der Medi-
ziner schreibt: „Es war offensichtlich, dass Herr H. nicht
mehr in der Lage war, weitere Fragen zu beantworten.“
Erstmals fällt nun im Jahr 1999 nach vielen erbrach-
ten medizinischen Gutachten über Manfred H. die Dia-
gnose: „Post-KZ-Syndrom“ mit chronisch-depressiver
Leitsymptomatik und Schlaflosigkeit einerseits, und Alb-
träumen andererseits, in denen die KZ-Erlebnisse wieder
erlebt werden.“
Manfred Höllenreiner ist im September 1999 verstorben.