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Islam in Deutschland
Einsichten und Perspektiven 2 | 15
Der ursprüngliche Gedanke hinter der Gründung dieses
Präsidiums war 1924, die Einflussnahme und Entwick-
lung der Religion in der laizistisch verankerten Republik
Mustafa Kemal Atatürks zu kontrollieren. Die Auseinan-
dersetzung mit der türkischen Geschichte zeigt, dass der
Kemalismus darunter die kulturelle, sprachliche und reli-
giöse Homogenisierung der neu gegründeten Republik
verstand. Aufgabe des
Diyanet
war es in diesem Zusam-
menhang, die Zuwendung aller sozialen Gruppierungen
zum sunnitischen Islam aktiv voranzutreiben. In diesem
Sinne ist auch der sunnitisch geprägte Religions- und
Ethikunterricht an türkischen Schulen zu verstehen, der
seit dem Militärputsch von 1980 für alle Schüler ver-
pflichtend ist: Er soll Kritik am politischen, religiösen und
gesellschaftlichen System der Republik bereits im Kindes-
alter ausmerzen. Bedenkt man darüber hinaus die aktuelle
Re-Islamisierung der türkischen Gesellschaft (als Gegen-
bewegung zu Atatürks striktem Säkularismus) unter der
„Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“
(Adalet ve
Kalk
ı
nma Partisi
, kurz: AKP), so bildet das Präsidium für
Religiöse Angelegenheiten heute zunehmend auch eine
zentrale Triebkraft hinter dem landesweiten Vormarsch
der Religion im Sinne der in der Türkei dominierenden
Mehrheit der Sunniten und des konservativen Religions-
verständnisses der AKP.
Da auch die deutsche DİTİB der Kontrolle des Präsi-
diums untersteht, eröffnet sie dem türkischen Staat somit
einen direkten Weg, die türkeistämmigen Muslime in
Deutschland im Sinne der religiösen Ausrichtung der AKP
zu beeinflussen. Etwa der Umgang mit religiös und poli-
tisch Andersdenkenden in der Türkei ebenso wie aktuelle
Bestrebungen der Sunnitisierung der türkischen Gesell-
schaft unter der AKP-Regierung werden daher über den
Weg des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten immer
auch einen Schatten auf den Umgang der DİTİB mit den
hier in Deutschland lebenden Gruppen der Aleviten, Yezi-
den, Armenier, Assyrer oder Kurden und die Lebensent-
würfe der in DİTİB organisierten Muslime werfen. Der
Wille zum Dialog und zum friedlichen Miteinander sollte
vor diesem Hintergrund nicht ausschließlich am Grad des
Austauschs mit den christlichen Kirchen oder Glaubens-
gemeinschaften aus anderen Weltregionen gemessen wer-
den, sondern ebenso am Respekt für die religiösen und
ethnischen Minderheiten aus der Türkei.
Diese engen Verflechtungen der DİTİB mit dem tür-
kischen Staat sind im Hinblick auf die Integration tür-
keistämmiger Muslime in Deutschland überaus proble-
matisch. So obliegt es u.a. dem Präsidium für Religiöse
Angelegenheiten, die wöchentlichen Freitagspredigten zu
formulieren, und ebenso entsendet es Vorbeter (Imame)
in die DİTİB-Moscheen. Diese sind Angestellte des
türkischen Staates und werden nach ihrer Ausbildung
für einige Jahre in Auslandsmoscheen als Prediger ent-
sandt. Ausgebildet wurden sie in den religiösen İmam-
Hatip-Gymnasien der Türkei, die seit der Regierungszeit
Erdoğans wieder verstärkt gefördert werden und – obwohl
sie ursprünglich eigentlich nur der Ausbildung islami-
scher Prediger dienten – heute großen Zulauf in konser-
vativ-islamischen Bevölkerungsschichten haben. In den
seltensten Fällen beherrschen die entsandten Imame die
deutsche Sprache; ihnen sind auch die Lebensumstände
der türkeistämmigen Muslime in der Diaspora fremd. Für
die DİTİB-Moscheen sind diese Vorbeter jedoch – man-
gels umfassender Ausbildungsmöglichkeiten für Imame in
Deutschland – höchst attraktiv, weil sie professionell aus-
gebildete Theologen sind und dank der Bezahlung durch
den türkischen Staat hauptamtlich und damit allumfas-
send tätig werden können.
Die immer wieder erneuerte Einflussnahme auf ihre
religiöse, soziale und kulturelle Ausrichtung (durch regel-
mäßig neu entsandte, frisch ausgebildete Imame) ver-
langsamt aktiv die Herausbildung eines in Deutschland
verwurzelten und an hiesigen Gegebenheiten orientierten
islamischen Lebensentwurfs, wenn es diesen nicht sogar
in letzter Konsequenz verhindert. Zusätzlich verstärkt
die Präsenz von Imamen und Predigten, die aus dem
Selbstverständnis einer anderen Gesellschaft heraus nach
Deutschland gebracht werden, das Hin- und Hergerissen-
sein türkischstämmiger muslimischer Migranten zwischen
zwei Kulturen.
Die Sehitlik Moschee in Berlin-Neukölln
Foto: ullstein bild/Ulrich Baumgarten
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