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Islam in Deutschland
Einsichten und Perspektiven 2 | 15
Der Islam als Weltreligion
Von der Entstehung des Islams im frühen 7. Jahrhundert
christlicher Zeitrechnung bis zum heutigen Tag wurde der
Islam als monotheistische Religion zu einer neuen Welt-
religion. Heute gibt es rund 1,6 Milliarden Menschen
muslimischen Glaubens auf der ganzen Welt. Die Länder
mit den größten muslimischen Bevölkerungsanteilen liegen
dabei nicht etwa in Nordafrika oder Nahost, sondern in Asien
(Indonesien, Pakistan, Indien, Bangladesch), 
1
wo sich weit
entfernt von den Einflusssphären der Kalifen und Sultane
ganz eigene Richtungen des Islams und muslimisch geprägte
oder beeinflusste Gesellschaftssysteme herausgebildet haben.
Seit dem Niedergang der Kalifendynastien und dem
Osmanischen Reich kennt der Islam zudem keine Form der
zentralen weltlich-religiösen Führung mehr, die die
umma
leitet, wie dies etwa der Papst in der Katholischen Kirche tut.
Der Islam: ein Schmelztiegel oder ein „großes Haus
mit vielen Räumen und Flügeln“?
Bei der weltweiten Ausbreitung des Islam sind immer auch
regionale Vorstellungen und Traditionen in ein Wechsel-
spiel mit dem neuen Glauben getreten. Auf diese Weise
umfasst die Weltreligion heute viele Facetten und Glau-
bensrichtungen. Immer wieder gab es zudem Uneinigkeit
über die Praxis und das Verständnis des islamischen Glau-
bens, die – wie in den frühen Anfängen unmittelbar nach
demTod des Propheten – zur Herausbildung neuer Grup-
pierungen und Strömungen geführt hat, die jeweils auch
von unterschiedlichen geistlichen und weltlichen Führern
geprägt und geleitet wurden.
Ein Beispiel sind die vier, im Sunnitentum gleich-
berechtigt nebeneinander existierenden Rechtsschulen
(ma
āhib)
der Hanafiten, Hanbaliten, Malikiten und
Schafiiten. Ihre Unterschiede liegen vor allem im Umgang
mit den Quellen des islamischen Rechts (Koran und
Sunna), den diese für die Rechtsprechung und damit die
Vorgaben in der Lebensgestaltung ihrer Anhänger, die
Verrichtung des Gebets oder rituelle Reinheitsgebote pfle-
gen. In ihren Aussagen zum Umgang etwa mit anderen
Glaubensgemeinschaften, Atheisten oder Polytheisten
oder zum Verhältnis von Frauen und Männern stimmen
sie überein. In unterschiedlichen Weltregionen dominie-
ren verschiedene Rechtsschulen.
Ein anderes Beispiel für die Pluralität im Islam sind,
neben den großen Gruppen der Sunniten und Schiiten,
auch unterschiedliche konfessionelle Richtungen inner-
halb dieser Gruppen. Bei der
Schia
gibt es etwa die „Sie-
bener
Schia
“ und die „Zwölfer
Schia“
, in der sieben bzw.
zwölf direkte Generationen von Nachfahren Muhammads
als rechtmäßige Führer (Imame) anerkannt sind.
Die Religion des Islam kann damit nicht als ein monoli-
thischer Block betrachtet werden; sie wurde stark von regi-
onalen Gegebenheiten beeinflusst und wurde von unter-
schiedlichen Theologen und Rechtsgelehrten ausgestaltet.
Auch wenn der Islam von seinem Ursprung her alle Men-
schen unter einem monotheistischen Glauben zusammen-
führen und – nach islamischer Auffassung – wieder der
einen
Offenbarung Gottes nahebringen sollte, so erleben
wir also heute das Phänomen, dass sich der Islam im Zeit-
verlauf und im Zuge seiner Ausbreitung ebenso ausdiffe-
renziert hat wie die anderen Buchreligionen vor ihm.
Muslimisches Leben in Deutschland
Aufgrund der Globalisierung und der weltweiten Migrati-
onsströme vermischen sich diese unterschiedlichen Facetten
heute stärker als früher. In einem Land wie Deutschland
treffen z.B. verschiedene Glaubens- und Rechtsschulen des
Islams auf relativ engem Raum aufeinander. Wenn wir also
auf „den Islam in Deutschland“ schauen, dann verbirgt
sich hinter diesem Begriff eigentlich eine Vielzahl an unter-
schiedlich gelebten Formen des Islams.
Laut der Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“
leben in Deutschland schätzungsweise zwischen 3,9 und
4,3 Millionen Menschen muslimischen Glaubens. Diese
umfassen Sunniten und Schiiten, aber auch etwa 480.000
bis 552.000 Aleviten und 64.000 bis 74.000 Ahmadis, die
als separate Gruppen zu betrachten sind. 
2
Rund 2,6 Millio-
nen der in Deutschland lebenden Muslime mit Migrations-
hintergrund sind Türkischstämmige. 
3
550.000 stammen
jedoch aus Südosteuropa, 330.000 aus dem Nahen Osten,
280.000 aus Nordafrika und 186.000 aus Süd- oder Süd-
ostasien. 
4
Die verbliebenen 148.000 kommen ursprüng-
lich aus dem Iran, dem sonstigen Afrika und Zentralasien/
GUS. 
5
„Der Islam in Deutschland“ ist damit sowohl in eth-
nischer als auch in konfessioneller Hinsicht sehr heterogen.
1 Pew Research Center: Mapping the Global Muslim Population. A Report on
the Size and Distribution of the World’s Muslim Population. Washington,
October 2009, S. 5., vgl.
/
­
population.pdf [Stand: 10.06.2015].
2 Sonja Haug/Stephanie Müssig/Anja Stichs: Muslimisches Leben in Deutsch­
land. Forschungsbericht 6. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Nürn­
berg 2009, vgl. S. 80, 83 und 97.
3 Ebd., S. 84.
4 Ebd.
5 Ebd.
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