Einsichten und Perspektiven 2|15 - page 33

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Islam in Deutschland
Einsichten und Perspektiven 2 | 15
Auch wenn in Form des Koordinierungsrats der Muslime
der Versuch unternommen wird, den staatlichen Wün-
schen nach einem zentralen Ansprechpartner gerecht
zu werden, so sollten die genannten Zahlen deutlich
machen, dass die muslimischen Mitbürger unseres Lan-
des mit einem solchen zentralen Vertretungsorgan nur
wenig anfangen können und dass der feste Anschluss an
Moscheevereine und übergeordnete Dachverbände für
sie keine Voraussetzung für die Auslebung ihres Glaubens
darstellt. Dies gilt insbesondere für liberale und säkulare
Muslime, die wir in den Reihen des KRM vergeblich
suchen. Auch die Stimmen der Muslime aus süd- und süd-
ostasiatischen Ländern sind im KRM nicht vertreten. Wer
also spricht für diese Menschen, wenn es um das muslimi-
sche Leben in Deutschland in seiner ganzen Bandbreite
geht? Und wer spricht für die große Zahl an gläubigen
Muslimen, denen KRM oder seine Einzelverbände ZMD,
DİTİB, IRD oder VIKZ gar nichts sagen oder die sich
durch sie nicht vertreten fühlen?
In seiner aktuellen Form ist der KRM darüber hinaus
zu großen Teilen eine Vertretung türkisch-sunnitischer
Interessensgruppen, nicht aber „des Islams in Deutsch-
land“ in seiner ganzen Bandbreite. Zusätzlich haben sich
unter seinem Dachorganisationen eingenistet, die sich nur
oberflächlich von extrem-religiösen oder nationalistischen
Weltsichten lösen wollen, und in Form der DİTİB beher-
bergt dieses Gremium einen verlängerten Arm der türki-
schen Regierung und damit ein Einfallstor für die dort
aktuell in Bezug auf die Religion und Andersdenkende
verfolgte Politik.
Diese Kräfte, die im Koordinierungsrat zusammen-
fließen, um für „den Islam in Deutschland“ zu sprechen,
und die damit verbundenen Implikationen lassen ernste
Zweifel an der Umsetzbarkeit deutscher Forderungen
nach einem zentralen Ansprechpartner für den Islam auf-
kommen. Vielmehr nivelliert dieses Mantra von einem
zentralen Ansprechpartner „des Islam in Deutschland“
die dem Islam eigentlich innewohnende Pluralität. Es
stärkt die Dominanz der großen – zumeist sunnitischen
und türkischstämmigen – Verbände und innerislamischen
Strömungen noch weiter und verdeckt den Blick auf klei-
nere ethnische und religiöse Minderheiten sowie indivi-
duellere Lebensentwürfe, die ebenfalls ihren Platz unter
dem Dach unserer freiheitlich-demokratischen Grund-
ordnung finden können und möchten. Einige dieser gro-
ßen Verbände konnten vor allem deshalb so groß werden,
weil ihnen Mittel von Organisationen und Individuen
im Hintergrund zufließen, die das muslimische Leben in
Deutschland im Sinne ihrer eigenen Weltsicht beeinflus-
sen und prägen wollen. Individuen oder kleineren religi-
ösen Gemeinschaften fehlen vergleichbare Ressourcen. Es
kann nicht im Interesse der deutschen Gesellschaft und
Politik liegen, diese Schieflagen noch zu verstärken.
Aus diesem Grunde sollte die gegenwärtige „Politik
der einen Stimme“ überdacht werden. Unter Berücksich-
tigung der Heterogenität der Weltreligion Islam und der
fehlenden Tradition hierarchischer, zentralistischer Struk-
turen sollte für die Muslime und ähnliche wenig bis gar
nicht strukturierte Glaubensrichtungen möglicherweise
eher nach alternativen Formen der Zusammenarbeit bei
der Regelung religiöser Angelegenheiten gesucht wer-
den. Auch einzelnen innerislamischen Strömungen sollte
mehr Beachtung geschenkt und der Islam nicht länger in
einen monolithischen Block hineingezwängt werden. Die
Ahmadiyya Muslim Jamaat
, eine Gruppe von etwa 64.000
bis 74.000 Gläubigen aus Pakistan, ist als Glaubensge-
meinschaft beispielsweise inzwischen anerkannte Kör-
perschaft des öffentlichen Rechts. Sie tritt organisiert auf
und spricht für die Gruppierung der Ahmadis als Ganzes.
Auch eine große Mehrheit der etwa 480.000 bis 552.000
anatolischen Aleviten sieht in der Alevitischen Gemeinde
Deutschland e.V. (AABF) ihr zentrales Sprachrohr, die
dementsprechend als eigenständige Glaubensgemein-
schaft seitens des Staats anerkannt wurde. Würde die Bun-
desrepublik weiterhin einzelne exponierte und ressourcen-
starke Verbände als Sprecher „des Islams in Deutschland“
legitimieren und damit stillschweigend auch ihre ideolo-
gischen Ausrichtungen und „Hintermänner“ akzeptieren,
so wäre dies auch ein Signal für diejenigen muslimischen
Strömungen in Deutschland, die sich, wie die Ahmadis,
auf eigene Weise organisiert haben, oder, wie die breite
Masse der Muslime in Deutschland, in gar keiner Form
organisiert sind.
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