Einsichten und Perspektiven 2|15 - page 31

31
Islam in Deutschland
Einsichten und Perspektiven 2 | 15
Eine differenzierte innerislamische Debatte über die Viel-
falt der im Islam existierenden Strömungen lässt sich nur
schwer erreichen, wenn DİTİB als Verband den Vorgaben
der strikt sunnitisch orientierten Diyanet folgt. Dies zeigt
sich immer wieder im Umgang mit Professorenstellen, wie
sie etwa an der Universität Münster geschaffen wurden,
um muslimische Imame und Religionslehrer für den Isla-
mischen Religionsunterricht auszubilden. Ist die an deut-
schen Universitäten vermittelte Lehre oder Interpretation
des Islams den Verbänden, wie der DİTİB oder dem
Koordinierungsrat der Muslime insgesamt, nicht genehm,
so verweigern sie die Zusammenarbeit und Unterstützung
für die nicht in ihrem Sinn ausgebildeten Fachkräfte.
Insofern ist es schwierig, die DİTİB (für sich allein
genommen ebenso wie als Mitglied des Koordinierungsra-
tes der Muslime in Deutschland) als zentralen Ansprech-
partner für den Islam in Deutschland zu akzeptieren.
Sicherlich sollte die große Zahl der in DİTİB organisier-
ten türkischstämmigen Muslime bei einemDialog mit den
Muslimen nicht außen vor bleiben, jedoch sollte genau
hingesehen werden, inwieweit sich die Verflochtenheit
mit dem türkischen Staat und dem türkischen Präsidium
für Religionsangelegenheiten auf diesen innerdeutschen
Dialog auswirkt.
Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland e.V. (IRD)
Etwas mitgliederstärker und älter als der Zentralrat, ver-
eint auch der Islamrat für die Bundesrepublik Deutsch-
land (IRD) etwa 30 Organisationen unter seinem Dach.
Ihm gehören ca. 400 Moscheegemeinden an, in denen
rund 40.000 bis 60.000 Mitglieder organisiert sind. 
20
Die
überwiegende Zahl dieser Moscheen wird von der Islami-
schen Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) betrieben, 
21
die
in Deutschland rund 31.000 Anhänger hat 
22
und eben-
falls von Türkeistämmigen gegründet wurde.
Der türkische Begriff
„millî görüş“
(nationale Sicht)
geht auf den türkischen Politiker Necmettin Erbakan
zurück, der die Grundlagen einer „Gerechten Ordnung“
(Türkisch:
adil düzen)
ausformulierte und propagierte.
Diese „gerechte Ordnung“ folgt den Prinzipien des
Islam; alles andere (Gesellschaft, Rechtssystem, Politik,
Wirtschaft etc.) ist diesen untergeordnet. Was nicht mit
dem Islam konform ist, also nicht der „von Gott gege-
benen gerechten Ordnung“ folgt (z.B. die von Menschen
gemachten Menschenrechte oder politischen Systeme),
gilt als nichtig
(batil)
und hat somit keinerlei Gültigkeit
für das Leben der Menschen. Ein prominentes Beispiel
dieser Lebensphilosophie ist der Versuch vieler der IGMG
nahestehender Eltern, koedukativen Sport- und Schwim-
munterricht durch Krankschreibungen ihrer Töchter zu
verhindern, da Gott nach deren Sicht die sittsame Tren-
nung der Geschlechter fordere. Auch die AKP ist als Partei
dieser Ideologie entsprungen: Ihr Gründer Recep Tayyip
Erdoğan war seit seiner Jugend in Erbakans politischem
Fahrwasser unterwegs und parteipolitisch aktiv.
Trotz fortwährender öffentlicher Beteuerungen jüngerer
Generationen von IGMG-Funktionären, mit der nationa-
listisch-islamistischen Vergangenheit Erbakans gebrochen
zu haben, steht die IGMG bis heute unter Beobachtung
des Verfassungsschutzes. Im Verfassungsschutzbericht
2013 zieht dieser dabei nach der Auswertung von Veröf-
fentlichungen und Veranstaltungen der IGMG das Fazit:
„Die nach wie vor bestehende generelle Prägung durch
die ‚Millî-Görüş‘-Ideologie ist geeignet, eine ablehnende
Haltung gegenüber westlichen Werten zu verstärken und
Demokratiedistanz zu fördern.“ 
23
Dass eine ideologisch so zu verortende Organisation
über den Weg des Islamrats und des KRM zu einem
akzeptierten Gesprächspartner staatlicher Organisatio-
nen in Deutschland werden kann, ist von außen besehen.
Möchten wir wirklich, dass im islamischen Religionsun-
terricht an öffentlichen Schulen auch solche Werte ver-
mittelt werden (in NRW ist die IGMG Ansprechpartner
für dessen Einrichtung) oder dass die Bestrebungen der
IGMG unter dem Deckmantel „religiöser Freiheit“ in
Staatsverträgen staatlich sanktioniert werden? Tatsächlich
sollten doch das interkulturelle und interreligiöse Mitei-
nander in Deutschland und unsere – eben von Menschen
gemachte – freiheitlich-demokratische Grundordnung
unvereinbar mit der Einbindung einer Organisation sein,
die nicht bereit ist, sich nachhaltig von einer Ideologie
der gottgegebenen Ordnung zu distanzieren und ihre
Struktur im Hinblick auf ihre ideologische Ausrichtung
transparent zu halten.
20 DIK: Die Verbände in der DIK, vgl.
/
[Stand: 01.06.2015].
21 Ebd.
22 Bundesministerium des Inneren: Verfassungsschutzbericht 2013. Berlin,
Juni 2013. S. 248, vgl.
keitsarbeit/publikationen/verfassungsschutzberichte [Stand: 02.06.2015].
23 Bundesministerium des Inneren: Verfassungsschutzbericht 2013. Berlin,
Juni 2013. S. 256, vgl.
keitsarbeit/publikationen/verfassungsschutzberichte [Stand: 02.06.2015].
1...,21,22,23,24,25,26,27,28,29,30 32,33,34,35,36,37,38,39,40,41,...80
Powered by FlippingBook