Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 272

wusst entscheiden, was wirklich entsorgt werden muss bzw.
wo man seinen Lebensmittelkonsum einschränken und be-
wusster gestalten kann. Genauso wie immer mehr Men-
schen sich fragen, ob die Gründe, Fleisch zu essen, wirklich
überzeugender sind als die, es nicht oder weniger zu essen“,
sagt Barbara Merhart von „Foodsharing München“ im Ge-
spräch mit der Landeszentrale im Oktober in München.
Daher reicht es nicht aus, die Lebensmittelindustrie als Ur-
sache allen Übels zu bezeichnen, da diese ihr Warenangebot
ja auf die Bedürfnisse des Verbrauchers ausrichtet. „Wenn
wir viel Fleisch billig wollen, wird viel Fleisch billig produ-
ziert. Wenn wir kein krummes Gemüse wollen, dann wird
eben schönes Gemüse gezüchtet und das krumm gewachse-
ne entsorgt.“
Ein Vorteil des Foodsharing-Prinzips besteht dar-
in, dass jeder mitmachen kann und der Einfluss, den der
Verbraucher nehmen kann, hervorgehoben wird. „Wir ent-
scheiden, was wir kaufen. Viele haben den Mut aufgegeben,
in einer globalisierten Weltwirtschaft etwas zu verändern.
Daher sehen wir bei Foodsharing ein extrem großes Poten-
zial, gesellschaftlich etwas in die Hand zu nehmen und zu
bewirken. Lebensmittelverschwendung vermeiden kann je-
der ohne großen Aufwand, egal, ob er Systemkritiker ist
oder einfach nur sparen möchte“, erklärt Barbara Merhart.
Die Mitglieder von Foodsharing wissen jedoch auch, dass
auf längere Sicht staatliche Regelungen notwendig sind. Ziel
ist es deshalb, das gesellschaftliche Interesse an diesem The-
ma so hochzuhalten, dass politische Maßnahmen ergriffen
werden: „Wir hoffen auf staatliche Regulierungen, wie zum
Beispiel die Verlängerung des Mindesthaltbarkeitsdatums,
Lockerung der Normen bei Obst und Gemüse – in erster
Linie im Hinblick auf die Ästhetik - und vor allem Aufklä-
rung, insbesondere dahin gehend, den eigenen Instinkt zu
9 Angebot von Agrarprodukten deutlich unterhalb der Produktionskosten. Diese hochsubventionierten Produkte gelangen auf den Welt-
markt, was oft dazu führt, dass Kleinbauern aus Entwicklungsländern kaum eine Chance haben, ihre lokalen Produkte zu einem existenz-
sichernden Preis zu verkaufen.
10 Über 2000 Exemplare gibt es kostenlos, den Rest käuflich zu erwerben – woran Raphael allerdings nichts verdient – bzw. kostenlos zum
Herunterladen als E-Book oder PDF unter
.
Realizing Utopia
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gebrauchen. Wieder riechen, schmecken, hinsehen, statt al-
lein aufs Mindesthaltbarkeitsdatum zu schauen und gute Sa-
chen wegzuwerfen“, fordert Barbara Merhart. „Wir wollen
zum Nachdenken anregen über die Produktion, die Le-
bensmittelindustrie, das eigene Konsumverhalten sowie
Zusammenhänge und Auswirkungen des eigenen Verhal-
tens auf Mensch und Umwelt. Insofern verstehen wir uns
auch als gesellschaftliches Bildungsorgan, das die Arbeit
von Schulen und Medien ergänzen oder mit diesen koope-
rieren kann.“ Und dabei geht es nicht nur um Deutschland:
Um einen Wandel im Umgang mit Lebensmitteln und de-
ren Verteilung zu gewährleisten, muss auch auf die interna-
tionalen strukturellen und systemischen Ursachen, die zu
Hunger in der Welt beitragen, aufmerksam gemacht und
darüber gesprochen werden: Agrardumping,
9
Verbrennung
von Lebensmitteln zur Herstellung von Biodiesel und Bör-
senspekulation mit Agrarprodukten sind Probleme, die auf
politischer und wirtschaftlicher Ebene behoben werden
müssen.
In Zeiten, in denen Politik und Wirtschaft so eng
miteinander verbunden sind, kommt Bewegungen aus der
Mitte der Gesellschaft eine besondere Bedeutung zu: „Wir
haben das Potenzial, Themen auf die politische Agenda zu
bringen, die bisher nicht darauf stehen oder vernachlässigt
wurden.“
Raphael Fellmer ist ein diesem Umfeld bekannter
Akteur, der sich ehrenamtlich für Foodsharing e.V. enga-
giert, bundesweit die „Foodsaver“ betreut und in diesem
Zusammenhang als sogenannter „Stadtbotschafter“ Berlins
tätig ist. Raphael lebt seit fast vier Jahren im „Geldstreik“:
In seinem neuen Buch „Glücklich ohne Geld“, das er im
November inMünchen vorgestellt hat, berichtet er über sei-
ne Erfahrungen mit diesem Lebensstil.
10
Raphael Fellmer bei der Vorstellung seines Buches im Eine
Welt Haus in München
Foto: privat
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