Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 264

Der Terazije-Platz, das geschäftige Zentrum Belgrads, in der
Mitte der Palata Albanija, das älteste Hochhaus der Stadt, erbaut
1940
Foto: Alexander Wulffius
Graffito der nationalistischen „Serbischen Volksbewegung 1389“
Foto: Alexander Wulffius
ken die Stadt, und Belgrad wurde wieder Serbiens Haupt-
stadt.
Vom Kalemegdan aus widmen wir uns nun dem
Belgrad des 21. Jahrhunderts, das sich uns dynamisch und
sehr urban präsentiert. Offenbar gibt man sich Mühe, etwas
aus der Stadt zu machen. Die Fußgängerzone Knez Mihai-
lova, die vomKalemegdan zum Platz der Republik führt, ist
gepflegt und voller schöner Geschäfte. Am Platz der Repu-
blik liegen das Nationaltheater und das Nationalmuseum
von Serbien. Von hier ist es nicht weit bis zum Terazije-
Platz, gesäumt von hohen Häusern, und zur Kralja Milana,
einer breiten Verkehrsschneise, die schnurgerade auf die rie-
sige Kathedrale des heiligen Sava zuführt, der serbischen
Nationalheiligen. Die Kathedrale ist, wie die Broschüre des
Tourismusamtes stolz vermerkt, das größte orthodoxe Kir-
chengebäude außerhalb Moskaus. Gebaut wird seit 1935,
fertig ist die Kirche nicht, bei unserer Besichtigung sehen
wir im Kircheninneren viel nackten Beton. Auf den Straßen
ist es ähnlich, das Stadtbild ist ein einziges Durcheinander:
alt neben neu, kaputt neben modern. Belgrad ist keine Au-
genweide, aber die Stadt hat Energie.
In einem ruhigeren Viertel der Innenstadt besuchen
wir das Nikola-Tesla-Museum. Wir erscheinen als einzige
Besucher zur turnusmäßigen Führung und erhalten in gu-
tem Englisch Einblick in Leben und Werk des großen Er-
finders. Die Vorführungen zur elektromagnetischen Induk-
tion sind auch für vom Deutschen Museum verwöhnte
Münchner anregend. Als Sohn eines serbisch-orthodoxen
Priesters im kroatischen Dorf Smilja geboren, wird Tesla
von Serben wie von Kroaten als Landsmann beansprucht –
in Serbien ist er auf dem 100-Dinar-Schein zu sehen. In Bel-
23 Calic (wie Anm. 9), S. 183.
24 Zitiert nach Calic (wie Anm. 9), S. 33.
Synekdoche, Balkan
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
264
grad ist man auf Tesla so stolz, dass man ihm nicht nur das
Museumgeweiht, sondern auch den Flughafen nach ihmbe-
nannt hat. Das ist insofern bemerkenswert, als die Führerin
selbst eingesteht, dass Nikola Tesla nur einen Tag nach-
weislich in Belgrad verbracht hat.
Ganz anders verhält es sich mit einer anderen ju-
goslawischen Symbolfigur, der zum100. Geburtstag im Jahr
1992 ein künstlerisch gelungenes Denkmal imZentrumBel-
grads gewidmet wurde. Der aus einer katholischen Familie
stammende Ivo Andric¢, geboren 1892 in Sarajevo, wuchs im
südbosnischen Višegrad auf – der Schauplatz seiner nobel-
preisgekrönten literarischen Chronik über „Die Brücke
über die Drina“. Der 1945 erschienene Roman erlangte für
Jugoslawien gerade deshalb so große Bedeutung, weil er in
der geschichtlichen Rückschau das Zusammenleben der Re-
ligionen und Kulturen nicht naiv-harmonisch porträtiert.
Andric¢ thematisierte das dauerhafte Nebeneinander „von
Koexistenz und Konflikt meisterhaft als zentrale identitäts-
stiftende Erfahrung der Jugoslawen“.
23
Ivo Andric¢ schilderte imRoman auch den Geist der
Beschleunigung und Neuerung, der um 1900 selbst die
abgelegenen Regionen des späteren Jugoslawien erfasste.
Dennoch: In Belgrad lebte zu dieser Zeit noch jeder Zwei-
te der kaum 70 000 Einwohner von der Landwirtschaft.
Die einsetzende Landflucht führte zu erbärmlichen Le-
bensbedingungen vieler Neuankömmlinge. In den überfüll-
ten Wohnungen breiteten sich die „drei größten Feinde der
Volksgesundheit“
24
aus, wie eine Erhebung aus dem Jahr
1906 festhielt: Tuberkulose, Alkoholismus und Ge-
schlechtskrankheiten. Der Zuzug aus ländlichen Gebieten
blieb eine Konstante für Belgrads Entwicklung während des
209...,254,255,256,257,258,259,260,261,262,263 265,266,267,268,269,270,271,272,273,274,...284
Powered by FlippingBook