Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 254

Das Maskottchen der Olym-
pischen Spiele 1984 begrüßt
noch immer die Besucher
Sarajevos.
Foto: Alexander Wulffius
Bahnfahrt nach Sarajevo entschieden hat und in höchsten
Tönen vom Festival schwärmt.
Eine lange Anreise hat auch ihre Vorteile: Als die
ersten Hochhäuser von Sarajevo auftauchen, sind wir glei-
chermaßen erleichtert wie aufgeregt, endlich in dieser Stadt
mit ihrer besonderer Geschichte anzukommen. In Sarajevo
haben verschiedene Kulturen und Systeme ihre Spuren hin-
terlassen – das Osmanische Reich, die Habsburgermonar-
chie, Jugoslawien – und schufen so eine echte kulturelle
Schnittstelle in Europa. Mehr als einmal galt Sarajevo die
Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit: als hier am 28. Ju-
ni 1914 mit dem Attentat auf den österreichischen Thron-
folger Franz Ferdinand die Uhr für den ErstenWeltkrieg zu
ticken begann, durch die Olympischen Winterspiele 1984
und durch die längste militärische Belagerung des 20. Jahr-
hunderts von 1992 bis 1996.
Den Namen Sarajevo bekam die Stadt im 15. Jahr-
hundert, er geht zurück auf das türkische Wort
saray
, also
Serail oder Herrscherresidenz. Sarajevo war eine osmani-
sche Stadt, als bedeutender Handelsplatz bereits im16. Jahr-
hundert die wichtigste westlich von Istanbul. Dieser Epo-
che verdankt Sarajevo die orientalisch anmutende Altstadt
und die vielen Moscheen mit ihren spitzen türkischen Mi-
naretten. Österreich-Ungarn besetzte Bosnien-Herzegowi-
na 1878 als Folge des Berliner Vertrags, 1908 wurde das
Land ein offizieller Bestandteil der Habsburgermonarchie
3 Sarajevo war auch ein Fixpunkt der Popkultur, die sich in Jugoslawien viel freier entfalten konnte als in den Staaten des Warschauer Paktes.
Die beliebteste Rockband Jugoslawiens, Bijelo Dugme, stammte aus Sarajevo, ihr ehemaliger Gitarrist Goran Bregovic
´
ist immer noch ak-
tiv. Zudem ist Sarajevo der Geburtsort einer spezifisch jugoslawischen Subkultur der frühen 1980er mit Verbindung zu Punk und New
Wave: der New Primitives. Zu den Protagonisten zählten Filmregisseur Emir Kusturica und die Band Zabranjeno Pušene, von der ein (ser-
bischer) Teil heute noch als „No Smoking Orchestra“ weltweit unterwegs ist. Interessant sind dazu die beiden englischsprachigen Wikipe-
dia-Artikel:
und
[Stand: 16. No-
vember 2013].
Synekdoche, Balkan
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und Sarajevo damit zur Hauptstadt eines k. u. k. Reichsteils.
Die Österreicher bauten die heutige Innenstadt in jenem Stil
aus, wie man ihn auch in Ljubljana oder Zagreb findet. Mit
dem Ende Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg geriet
auch Sarajevo in einen anderen Kontext, wurde erst Teil
des Königreichs Jugoslawien, 1945 die Hauptstadt einer
Teilrepublik im sozialistischen Jugoslawien. Im Vielvölker-
staat war Sarajevo eine Vielvölkerstadt, bewohnt von mus-
limischen Bosniaken, orthodoxen Serben und katholischen
Kroaten. Sarajevo wuchs rasant und wurde zu einer moder-
nen Stadt, auch zu einem kulturellen Zentrum
3
– und 1992
zum tragischen Schauplatz des gewaltsamsten Kapitels der
Jugoslawienkriege. Sarajevo wurde während der fast vier-
jährigen Belagerung durch die bosnisch-serbische Armee
erheblich zerstört, überlebte aber und ist heute die Haupt-
stadt des Staates Bosnien-Herzegowina.
Das ist auf jeden Fall ziemlich viel für eine Stadt
von nicht einmal einer halben Million Einwohnern, und wir
haben viele Erwartungen, als wir den Bahnhof erreichen.
Für einen mit Geschichte überfrachteten Ort fällt die Ori-
entierung in Sarajevo leicht, da sich die Stadt in einem
schmalen Talkessel von Westen nach Osten erstreckt,
gleichsam von Neu nach Alt. Auf dem kurzen Weg ins Zen-
trum sind die Plätze aufgereiht, die für die Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft dieser Stadt stehen.
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