Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 244

teresse liegen würde, „unsere Heimat verkaufen oder für ei-
gene Ziele missbrauchen werden“.
14
Die historische Erfahrung mit der Untreue und
demEgoismus der Verbündeten versuchten jedoch auch an-
dere politische Kräfte zu instrumentalisieren. In einemAuf-
satz mit dembezeichnenden Titel „München und Lissabon“
führte die Chefin der nationalistischen und radikal-euro-
skeptischen Partei „
Suverenita
“ aus, die Politiker der ein-
zelnen EU-Staaten würden vornehmlich für die Interessen
des eigenen Landes eintreten, undwarnte davor, sich auf den
Schutz der Größeren und Mächtigeren zu verlassen.
15
In
dieselbe Kerbe schlug der damalige Präsident Václav Klaus.
Er hielt zwar keine Rede zum Jahrestag des Münchner Ab-
kommens, sondern nutzte den 90. Jahrestag der Gründung
der Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918 und die bevor-
stehende EU-Ratspräsidentschaft Tschechiens, um auf sei-
ne Art und Weise eine Lehre aus München zu ziehen. Die
Ratspräsidentschaft hielt er für ein Ablenkungsmanöver zur
Beruhigung der kleinen EU-Staaten. In der Tat würden vier
große Staaten die EU beherrschen, nämlich Deutschland,
Großbritannien, Frankreich und Italien – eben jene Mäch-
te, versäumte er nicht hervorzuheben, die das Münchner
Abkommen unterzeichnet haben.
16
Und einer seiner Gesin-
nungsgenossen nahm gar kein Blatt vor den Mund und
sprach von Lissabon als von einem „schleichenden Münch-
ner Abkommen“.
17
Wie lange die „Faszination“ Münchens in der
tschechischen Öffentlichkeit noch bestehen bleibt, ist nur
schwer abzuschätzen. Die meisten von den Faktoren, die
eingangs skizziert wurden, werden wahrscheinlich noch
lange fortwirken. Doch sind partielle Schübe in der Debat-
te über München zu verzeichnen. Zum einen sieht auch die
tschechische Geschichtsschreibung München mittlerweile
viel differenzierter als noch zu Beginn der 1990er Jahre.
Man erkennt zum Beispiel an, dass die Entscheidungslage
der europäischenWestmächte 1938 gar nicht so einfach war.
Aus dem irrational anmutenden „nackten Verrat“ ist im
wissenschaftlichen Verständnis eine schwierige Entschei-
dungsfindung geworden, umdie man dieMächtigen von da-
14 Lukáš Jelínek: Co z výrocˇí Mnichova 38 vycˇetli politici (Was die Politiker aus dem Jahrestag von München 38 herausgelesen haben), in:
neviditelnypes, vom 06.10.2008. Abrufbar in:
15 Jana Bobošíková: Mnichov a Lisabon (München und Lissabon), in: neviditelný pes, vom 30.09.2008. Abrufbar in:
-
dia.cz/ medialni-archiv.
16 Václav Klaus: Cˇ eské prˇedsednictví EU nebude mít na chod Unie vliv (Die Tschechische Ratspräsidentenschaft wird auf das Funktionieren
der Union keinen Einfluss haben), in: ceska-media.cz, vom 26.10.2008. Abrufbar in:
.
17 Rede von Miroslav Ševcˇík auf dem 19. Kongress der Demokratischen Bürgerpartei am 07.12.2008, in:
/
3749-miroslav-sevcik-lisabonska-smluva-je-plizivou-mnichovskou-dohodou-a-cestou-do-otroctvi.aspx (Stand: 24.10.2013).
18 Jaroslav Kojzar: Je trˇeba zabránit dalším Mnichovu
°
m. Rozhovor s prˇedsedou ÚV KSCˇ M Vojteˇchem Filipem (Man müsse nächste München
verhindern. Gespräch mit dem Vorsitzenden des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Böhmens und Mährens, Vojteˇch Filip), in:
Haló noviny vom 30.09.2013.
19 Mnichov v sobeˇ možná máme všichni. (München geht uns vielleicht allen unter die Haut), in: Lidové noviny vom 30.09.1998.
20 Historie ocˇima verˇejnosti (Geschichte durch die Augen der Öffentlichkeit), in: Hospodárˇské noviny vom 27.02.1998.
Nach München. Das lange Nachleben eines Abkommens
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
244
mals keineswegs beneidet. Außerdem sind die Historiker
immer weniger bereit, schweigend zu übergehen, dass der
tschechoslowakische Staat wegen der ungelösten Nationa-
litätenfrage ziemlich geschwächt in seine Existenzkrise ging
und sich auf seine Bürger deutscher, ungarischer, polnischer
und mittlerweile auch slowakischer Nationalität nur einge-
schränkt verlassen konnte. Deswegen auch ist München
hauptsächlich eine tschechische Krise und ein tschechisches
Trauma.
Zum anderen ging der diesjährige 75. Jahrestag des
Münchner Abkommens ziemlich geräuschlos über die
politische Bühne. Nur der Parteichef der Kommunisten be-
schuldigte die USA, sie seien bereit, in neue Kriege zu zie-
hen und würden „neue München“ planen, und kritisierte
im aufflammendenWahlkampf, dass die vorausgehende Re-
gierungskoalition sich „schrankenlos den amerikanischen
Interessen untergeordnet hat.“
18
Die allmählich abnehmen-
de Empfindlichkeit des Themas mag daran liegen, dass die
Mehrheit der Bevölkerung heute kaum mehr geneigt ist zu
glauben, München gehe „uns allen“, wie die Zeitung
Lidové
noviny
noch 1998 schrieb, „unter die Haut“.
19
Auf längere
Sicht steht deswegen zu vermuten, dass die Metapher Mün-
chen in der politischen und gesellschaftlichen Debatte all-
mählich in den Hintergrund tritt und München endlich hi-
storisiert wird. Denn je größer der zeitliche Abstand von
den Münchner Ereignissen wird, desto weniger glaubwür-
dig erscheint die historische Analogie – die Welt ist doch in
vieler Hinsicht eine andere geworden. Und je weniger Ähn-
lichkeiten zwischen München und unserer Gegenwart ge-
sehen werden, desto mehr verliert die Metapher an Aussa-
gekraft und somit an mobilisierender Wirkung. Dies ist
auch darauf zurückzuführen, dass von der Erlebnisgenera-
tion heute nur noch eine kleine Gruppe übriggeblieben ist.
Jede Generation bezieht sich auf ihr eigenes Trauma: Es ist
kein Zufall, dass die Mehrheit der Tschechen bereits 1998
nicht München 1938, sondern den August 1968 als das ne-
gativste Ereignis der tschechischen Zeitgeschichte bezeich-
nete.
20
209...,234,235,236,237,238,239,240,241,242,243 245,246,247,248,249,250,251,252,253,254,...284
Powered by FlippingBook