Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 250

überzeugt hatte. Dieser trat keine drei Tage später in die hei-
ße Phase seiner Vorbereitungen ein und verließ dann am
10. Oktober die Schweiz in Richtung Deutschland, weil er
Pius’ öffentliche Haltung teilte und demMünchner Schein-
frieden ebenso wenig traute, wie Édouard Daladier („diese
Idioten“ – über die ihm zujubelnden Menschenmassen am
Pariser Flughafen) und Winston Churchill („Sie hatten die
Wahl zwischen Krieg und Unehre. Sie wählten die Unehre
und werden den Krieg haben“ – zu Neville Chamberlain)
übrigens auch.
Zuvor kontaktierte er in Deutschland noch den
nationalsozialistischen „Weltdienst“ und abonnierte dessen
gleichnamige Zeitschrift; eine Begebenheit, die Urner nach
wie vor in seiner These bestärkt – wobei er eine Tatsache
übersieht, die banaler kaum sein könnte: Wenn Maurice Ba-
vaud tatsächlich ein ernsthaftes Interesse an diesem Schund-
blatt gehabt hätte, dann hätte es für ihn nichts Einfacheres
gegeben, als den „Weltdienst“ direkt vor Ort, direkt inNeu-
enburg, und in französischer Sprache zu erwerben, anstatt
ihn höchst umständlich und in der für ihn falschen Sprache
in Deutschland zu abonnieren – Urner war 1980 aufgrund
nachlässiger Recherchen also ernstlich der Annahme gewe-
sen, den „Weltdienst“ habe es nur in Nazi-Deutschland und
nicht in über einem Dutzend weiterer europäischer Länder
in den dort jeweils entsprechenden Sprachen gegeben.
Von daher bleibt für diesen Vorgang nur die auch
von Meienberg plausibel vertretene These, dass sich Bavaud
für seine Verhaftung, mit der er nun einmal im Voraus rech-
nen musste, eine Art Rückhalt verschaffen wollte, um sich
bei den Vernehmungen als überzeugter Nationalsozialist
präsentieren zu können. Auch Urners weiterführende Vor-
würfe sind ähnlich halbseiden konstruiert und von daher
vollständig zu entkräften. Im Folgenden sollen lediglich
drei der wichtigsten und repräsentativsten Beispiele ange-
führt werden, um aufzuzeigen, mit welch fragwürdigen An-
schuldigungen Maurice Bavaud noch immer in Misskredit
gebracht werden soll:
1. Das von Bavaud aus seiner Todeszelle an die Fa-
milie gerichtete Musset-Gedicht („Warum schlägt mein
Herz so schnell? / Was bewegt sich so heftig in meiner
Brust? / Wovor habe ich Angst? / Klopft nicht jemand an
meine Türe? / Warum blendet mich das Licht / meiner halb
erloschenen Lampe? / Allmächtiger Gott! Mein ganzer
Körper fröstelt. / Wer kommt? Wer ruft mich? Niemand. /
Ich bin allein, die Stunde schlägt. / OEinsamkeit, o Elend!“)
nimmt Urner zum Anlass, um dem Neuenburger eine ho-
mosexuelle Beziehung zuMarcel Gerbohay zu unterstellen,
da er von diesem allmächtigen Beschützer und Liebhaber
die Befreiung aus seiner misslichen Lage erwartet habe. Da-
bei liegen Bavauds Beweggründe für das Musset-Zitat ein-
5 Martin Steinacher: Maurice Bavaud – verhinderter Hitler-Attentäter im Zeichen des Katholizismus?, München 2012.
„Ich sterbe im Schoße der Kirche“
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deutig und ohne jede Art von Spekulation anstrengen zu
müssen, auf der Hand, denn es handelt sich um nichts we-
niger als eine Beschreibung seines Isolationshaftalltags in ei-
ner kalten, von ständigem Licht erhellten und mit ihrer Ein-
tönigkeit alles zermürbenden Zelle, deren Tür sich für den
ahnungslosen Insassen jederzeit öffnen konnte, um ihn zu-
erst vor Gericht und sodann auf das ohnehin schon warten-
de Schafott zu entlassen.
2. Um ein perfides Machwerk handelt es sich nicht
bei Maurice Bavauds
Urteils
schrift, sondern bei der
Ankla-
ge
schrift von Marcel Gerbohay, der in der Hauptsache ei-
nem völlig dilettantischen, ja liederlichen Vorgehen der mit
der Nazijustiz kollaborierenden Schweizer Behörden zum
Opfer fiel. Von diesen denunziert und so nach dem Fall
Frankreichs von der Gestapo gefangen genommen, wurde
er im April 1943, also knapp zwei Jahre nach Maurice Ba-
vaud, auf Grundlage einer fingierten Anklage ebenfalls hin-
gerichtet, obwohl sich die Gestapo sicher sein musste, dass
sie mit Gerbohay einen Unschuldigen exekutierte, da er
für sie über lange, lange Zeit überhaupt keine Rolle gespielt
hatte.
3. Hätte die Gestapo auch nur eine Sekunde lang an
eine Verschwörung der beiden Missionarsschüler geglaubt,
so hätte sie in den alles entscheidenden Monaten von Janu-
ar bis Dezember 1939 ein komplett anderes Verhalten an
den Tag gelegt, Bavaud sofort in ihre berüchtigte Schutzhaft
genommen (anstatt ihn außerhalb ihres Verantwortungsbe-
reiches in einfacher Polizeihaft zu belassen) und mittels der
sogenannten „verschärften Vernehmung“ den Namen des
vermeintlichen Anstifters und Auftraggebers kurzerhand
aus ihm herausgefoltert, weil sie ja, der Königsbronner Ter-
ror im Falle Georg Elsers beweist es mehr als eindrücklich,
stets nach konspirativen Hintermännern gierte und selbst-
verständlich davon hätte ausgehen müssen, dass sich Hitler
im Falle eines mehrköpfiges Komplotts noch immer in al-
lergrößter Gefahr befände.
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Doch genau das Gegenteil war der Fall: Die Gesta-
po zog sich nach Bavauds Geständnis, das anhand einer
Schriftprobe zweifelsfrei verifiziert werden konnte, kom-
plett aus der Angelegenheit zurück und trat erst wieder auf
den Plan, als der Schweizer im Februar 1940, in einem letz-
ten verzweifelten Versuch, seine Hinrichtung doch noch
aufzuschieben, den Namen seines französischen Freundes
lancierte, den er hinter der Maginotlinie aber wohl in abso-
luter Sicherheit gewähnt hatte. Dass Frankreich jedoch kein
halbes Jahr später vollkommen überraschend besiegt sein
und die Schweizer Polizei derart mit den Nazis kollaborie-
ren würde, konnte Bavaud keinesfalls voraussehen, und
deswegen ist er auch nicht – wie Urner es formuliert – für
den Tod seines Freundes Gerbohay verantwortlich.
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