Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 249

„Ich sterbe im Schoße der Kirche“
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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4 Emma Fattorini: Hitler, Mussolini and the Vatican. Pope Pius XI and the Speech that was Never Made, Cambridge 2011.
Ein Mann liest auf einem Wochenendausflug mit dem Schiff das
„12-Uhr-Blatt“. Nach Anordnung der Gestapo durfte dieses
„Werbebild“ allerdings nur veröffentlicht werden, wenn die
Schlagzeile „1500 Katholiken auf der Flucht“ retuschiert werde
und nicht mehr lesbar sei.
Foto: SZ-Photo – Scherl
an mit einigen Entbehrungen und einer aufopferungsvollen
Lebensweise konfrontiert wurde. Noch wesentlich wichti-
ger im Hinblick auf die spätere Motivlage ist jedoch die
Tatsache, dass Maurice Bavaud in einem stark segregierten
katholischen Milieu aufwuchs und darüber einen extrem
tiefen Glauben ausbildete, welcher sein von einer pazifisti-
schen Grundüberzeugung geprägtes und von ständig rezi-
pierter politischer Publizistik und anspruchsvoller Weltlite-
ratur durchdrungenes Leben umrahmte und nachhaltig lei-
tete.
Dementsprechend ist es auch nur folgerichtig,
wenn Maurice Bavaud die zu seiner frühen politischen Fin-
dungsphase gehörende Mitgliedschaft in der Neuenburger
Abteilung des Front National bereits nach sechs Monaten
wieder aufkündigte, da ihm diese demagogische Truppe in
seinen christlich-geistreichen Lebensansichten doch allzu
sehr entgegenstand und nicht etwa, wie Klaus Urner es be-
hauptet, zu einem erstenWegpunkt auf seinem vermeintlich
rechtsradikalen und antisemitischen Werdegang wurde.
Zwar liest er in jungen Jahren mit der
L’action française
auch eine rechtsextreme Zeitung, konsultiert mit der sozia-
listischen
La Sentinelle
aber gleichzeitig deren ideologisches
Gegenstück, was darauf schließen lässt, dass er ein politisch
wacher und interessierter Geist war, der, zwischen den ver-
schiedenen Denkrichtungen lavierend, das Weltgeschehen
verfolgte und dabei, stets reflexiv vorgehend, seine eigene
Position auszutarieren suchte.
Maurice Bavaud traf imOktober 1937 im Zuge sei-
ner Missionarsausbildung in der westfranzösischen Semi-
narschule von St. Ilan also als bedachter, intelligenter und
gebildeter junger Mann auf jenen Mitseminaristen Marcel
Gerbohay, der in Urners Argumentation zum alles ent-
scheidenden Wendepunkt, zum Überträger eines Wahns
und zum allgewaltigen Anstifter des Attentats auf Hitler
wird. Freilich verbindet beide Missionarsschüler eine rela-
tiv enge Freundschaft, die sich jedoch der gemeinsamen Lei-
denschaft für anspruchsvolle Literatur verdankt und nicht
etwa Gerbohays – eventuell pseudologischen – Hirnge-
spinsten einer zaristischen Abstammung, welche der katho-
lisch-bodenständige Bavaud zu keiner Zeit ernst nahm, wie
Zeugenaussagen einiger Mitseminaristen belegen.
Wesentlich überzeugender dürften ihm da schon
– insbesondere vor dem Hintergrund der kurz zuvor er-
schienenen Enzyklika
Mit brennender Sorge
von Papst
Pius XI. – die Gedankengänge eines weiteren Missionars-
kollegen erschienen sein, der ein baldiges Attentat auf den
Führer für durchaus geboten hielt, um die fortschreitende
Unterdrückung des Katholizismus zu unterbinden und die
Welt vor einer Katastrophe zu bewahren. Demzufolge kann
also bereits hier eine christlich-religiöse Motivlage, ganz
den Lebensinhalten Bavauds entsprechend, viel eher ange-
nommen werden als eine von unsicheren Spekulationen ge-
tragene Verschwörungstheorie. Auch Niklaus Meienberg
hat dies, als ehemaliger Schüler der Klosterschule Disentis
mit der Materie bestens vertraut, anhand eindrucksvoller
Schilderungen luzid dargelegt.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich für einen aus
seinem Glauben heraus agierenden Attentäter nicht nur in
der Enzyklika
Mit brennender Sorge
Anhaltspunkte für ei-
ne Legitimation des streitbaren Vorhabens finden ließen,
sondern auch und vor allem im Verhalten von Pius XI., der
die durch Nazi-Deutschland heraufbeschworene bedrohli-
che Lage frühzeitig erkannt und stets eindringlich vor ihr
gewarnt hatte. Noch amAbend des Münchner Abkommens
vom 29. September 1938 hatte der Papst eine äußerst bewe-
gende Radioansprache gehalten, in welcher er sein eigenes
Leben für den Erhalt des Friedens angeboten
4
und damit
den wohl ohnehin schon auf dem Sprung befindlichen Ba-
vaud endgültig von der Richtigkeit seiner geplanten Tat
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