Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 242

Präsident Edvard Beneš (links) und Stalin nach der Unterzeich-
nung eines Freundschafts- und Beistandspaktes zwischen der
tschechoslowakischen Exilregierung und der Sowjetunion im
Moskauer Kreml, 12. Dezember 1943
Foto: ullstein bild - Eupra
de Spannung 1958 im Vorfeld der zweiten Berliner Krise,
andererseits das mittlerweile korrekte Nebeneinander nach
der Herstellung diplomatischer Beziehungen zwischen den
beiden Staaten 1973 und nach dem ersten Besuch des tsche-
choslowakischen Staats- und Parteichefs, Gustáv Husák, in
Bonn im April 1978.
Die offiziellen Stellungnahmen hatten bis 1989 ei-
nen identischen, vielleicht sogar verbindlichen Aufbau. Sie
enthielten einen historischen Teil, in dem München im Sin-
ne der marxistischen Faschismus-Theorie als „Komplott“
des Westens mit Hitler gegen die UdSSR und die interna-
tionale Arbeiterbewegung gedeutet wurde. Ganz der Logik
des Kalten Krieges verhaftet, wurde den USA eine „aktive
und initiative Beteiligung“ an diesem Komplott vorgewor-
fen.
6
Ein fester Bestandteil dieses Geschichtsbildes war die
behauptete Bereitschaft der UdSSR, der Tschechoslowakei
im Herbst 1938 auch allein militärisch zur Hilfe zu kom-
men, und natürlich der entschlossene Kampf der Kommu-
nistischen Partei der Tschechoslowakei gegen die „Mün-
chener Kapitulation“. Wichtig war, dass München in diesem
verordneten Bild nicht als Versagen konkreter Politiker
bzw. politischer Eliten, sondern als Versagen des kapitalis-
tischen Systems hingestellt wurde. München habe „in vol-
ler Nacktheit den Zynismus der Bourgeoisie“ sowie „den
Bankrott der bürgerlichen Demokratie“ gezeigt.
7
Aus die-
ser historischen Erfahrung heraus, so die offiziell unermüd-
lich lancierte „Lehre aus München“, hätten sich Tschechen
und Slowaken für das Bündnis mit der UdSSR und für den
Sozialismus entschieden.
In dem aktuell-politischen Teil der offiziellen Er-
klärungen zum Jahrestag von München wurde in der Regel
die imperialistische Politik, wie es damals hieß, „entlarvt“.
Die Palette von außenpolitischen Themen, die anlässlich des
Münchner Jahrestages angesprochen oder mit den Ereignis-
sen von 1938 direkt verglichen wurden, war denkbar breit
und spiegelt getreulich die aktuellen außenpolitischen Prio-
ritäten nicht nur der Tschechoslowakei, sondern des gesam-
ten Ostblocks. So standen 1948 die Deutschlandpolitik, ins-
besondere der USA, und 1958 der Aufbau der Bundeswehr,
gleichzeitig aber die amerikanischen „Provokationen“ ge-
gen China im Mittelpunkt der Kritik. 1978 wurden die is-
raelisch-palästinensischen Absprachen von Camp David als
ein „neues München“ bezeichnet. 1988 diente der Hinweis
auf München als ein Argument für ein europa- bzw. welt-
weites System der kollektiven Sicherheit.
Die weit hergeholten Analogien, die die kommu-
nistische Propaganda ins Feld führte, wurden durch die Un-
terstellung ermöglicht, München sei aus demWesen des Ka-
6 Kucˇera (wie Anm. 4).
7 Leitartikel Mnichov varuje (München warnt), in: Rudé právo vom 30.09.1958.
8 Ebd.
9 Kucˇera (wie Anm. 4).
Nach München. Das lange Nachleben eines Abkommens
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pitalismus erwachsen. Die Gefahr eines neuen Münchens
bestand somit weiter, solange der Kapitalismus existierte.
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Auch fünfzig Jahre später lehnten die Repräsentanten des
kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei die
Historisierung von München ab: Zu einem wirklich abge-
schlossenen historischen Kapitel, hieß es 1988, werde es erst
dann, wenn „der allgemeine Zustand der Welt seine Wie-
derholung, sei es bei uns oder irgendwo in der Welt, un-
möglich macht.“
9
Da die Existenz der UdSSR und der sozialistischen
Staatengemeinschaft als ein wirksames Hindernis für ein
neues München galten, gab es einen weiteren obligatori-
schen Bestandteil der offiziellen Stellungnahmen zum
Münchner Jahrestag, nämlich Appelle zum weiteren Auf-
bau des Sozialismus und zur Festigung der Freundschaft mit
der UdSSR. Dieser Aspekt spielte 1968 eine zentrale Rolle,
als die tschechoslowakische Staats- und Parteiführung
sich außerordentlich verpflichtet fühlte, die Partner im
Warschauer Pakt von ihrer Bündnistreue zu überzeugen.
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