Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 243

Nach München. Das lange Nachleben eines Abkommens
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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10 Vgl. Fernseh- und Rundfunkansprache des Vorsitzenden der Nationalversammlung, Josef Smrkovský, am 29.09.1968, in: Rudé právo vom
01.10.1968.
11 Projev prezidenta republiky Václava Havla (wie Anm. 2).
12 Stanovisko ÚV KSCˇ M k 60. výrocˇí Mnichova (Stellungnahme des ZK der KSCˇ M zum 60. Jahrestag von München), in: Haló noviny vom
29.09.1998.
13 Prˇemysl Votava: Srbsko a historický odkaz Mnichova 1938 (Serbien und das historische Vermächtnis von München 1938), in: Haló noviny
vom 03.04.2008.
Rund fünf Wochen nach der gewaltsamen Niederschlagung
des Prager Frühlings und im Schatten der Waffen der einige
hunderttausendMann starken Besatzungsarmee war es frei-
lich besonders schwierig, den aufgebrachten Tschechen und
Slowaken zu vermitteln, dass die „Lehre aus München“ in
erster Linie in der Erkenntnis bestehe, wer die wahren
Freunde der Tschechoslowakei seien.
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Das Münchner Abkommen blieb auch nach der
Wende von 1989 ein von den Politikern oft aufgegriffenes
Thema. Zum 55. Jahrestag im Jahre 1993 entschloss sich Vá-
clavHavel zu einer kurzen Ansprache. WenigeMonate nach
der Entstehung des selbstständigen tschechischen Staates im
Januar 1993 ließ sich sein erster Präsident die Gelegenheit
nicht entgehen, vor dem Hintergrund der negativen histo-
rischen Erfahrung auf einige wichtige Grundsätze erneut
aufmerksam zu machen, auf denen seines Erachtens die jun-
ge tschechische Staatlichkeit aufgebaut werden sollte. Havel
war überzeugt, München sei ein Versagen sowohl der west-
lichen Demokratie als auch des Systems der kollektiven Si-
cherheit der Zwischenkriegszeit gewesen. Somit habe Mün-
chen zum einen gezeigt, dass Demokratie nicht bestehen
könne, solange sie bloß auf ein Set formaler Regeln redu-
ziert werde und nicht auf einer tiefen Identifizierung mit ih-
ren Grundwerten basiere. Zum anderen plädierte er aus der
Münchner Erfahrung heraus dafür, dem Aufbau „fester
Sicherheitsbindungen“ auf dem europäischen Kontinent
„maximale Aufmerksamkeit“ zu widmen. Außerdem lehn-
te Havel den „gesteigerten und blinden Nationalismus“ ab,
der zu München geführt habe, und sprach sich dezidiert für
die Bürgergesellschaft aus.
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Der 60. Jahrestag des Münchner Abkommens im
Jahre 1998 war für die höchsten politischen Stellen, wohl
eher überraschenderweise, kein Anlass mehr für eine offi-
zielle Erklärung. Umso entschlossener nahmen sich die op-
positionellenKommunisten des Themas an. Immer noch er-
bost über die deutsch-tschechische Erklärung vom Januar
1997, die sie als „schmachvoll“ bezeichneten, nutzten sie das
Andenken an München zu einer heftigen, ganz dem Ton des
Kalten Krieges verhafteten Kritik an der tschechischen Au-
ßenpolitik vor allem gegenüber der Bundesrepublik. Die of-
fizielle Erklärung des Zentralkomitees der Partei bezichtig-
te die „Vertreter der Tschechischen Republik, Präsident Ha-
vel eingeschlossen“, sie würden den „imperialen Interessen
Deutschlands“ dienen. Die tschechisch-deutsche Versöh-
nung wurde in den Augen der Kommunisten „erneut zu ei-
nem Deckmantel für die erzwungene Kapitulation des
tschechischen Volkes vor dem Druck der herrschenden
Kreise Deutschlands, die sich auf die starken Positionen
deutschen Kapitals in der tschechischen Wirtschaft und auf
den Beitritt der Tschechischen Republik zur NATO stüt-
zen.“
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Zehn Jahre später, 2008, prägte die München-Me-
tapher stark die Kosovo-Diskussion in der tschechischen
Politik und Öffentlichkeit. Nicht nur die Kommunisten er-
blickten Ähnlichkeiten zwischen den beiden, mittlerweile
siebzig Jahre auseinanderliegenden Ereignissen, sondern
auch nicht wenige demokratische Politiker. Die kommunis-
tische Presse wies aber explizit darauf hin, dass es gerade die
Signatare des Münchner Abkommens waren, die die Selbst-
ständigkeit des Kosovo als erste anerkannt hatten, und
warnte, dies ebne den Weg für die Anerkennung der Recht-
mäßigkeit auch des Münchner Abkommens.
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Aber es ging
nicht nur um das Kosovo, sondern in erster Linie wieder um
die Sicherheits- und Europapolitik Tschechiens. München,
behaupteten die Kommunisten, habe gezeigt, wie schwer es
sei, wahre Verbündete zu finden. Daher stellten sie die rhe-
torische Frage, ob man sich auf die jetzigen Freunde Tsche-
chiens verlassen könne, oder ob diese, falls es in ihrem In-
„Prager Frühling“: Prager Bürger auf dem Wenzelsplatz, im Vor-
dergrund ein sowjetisches Militärfahrzeug
Foto: ullstein bild - CTK
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