Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 274

Ansichten haben.
Landeszentrale:
Lebst du nicht eigentlich von der Le-
bensmittelverschwendung oder sogar generell auf Kosten
der Wohlstandsgesellschaft?
Fellmer:
Ich bin sozusagen wie ein Blutegel, der sich an
demBlutegel „Wohlstandgesellschaft“ festgesetzt hat und
davon die Reste absaugt. Aber das ist eben, weil ich mich
nicht zurückziehen möchte aus der Gesellschaft. Ich bin
kein Aussteiger. Wenn man mit den Menschen leben
möchte, kannman sich nicht vollständig demEinfluss von
Geld entziehen. Natürlich lebe ich davon, dass andere et-
was konsumieren. Aber solange kein Umdenken stattge-
funden hat, geht es nicht anders, wenn ich das, was ich
mache, weitermachen möchte. Wie die meisten anderen
Menschen, die bei Foodsharing mitmachen, würde ich
mich freuen, wenn es keine Lebensmittelreste mehr abzu-
holen gäbe. Dann wäre das Ziel erreicht. Mein Geldstreik
ist nur eine Form des Protests gegen ein auf Konsum und
Wachstum ausgerichtetes System.
Landeszentrale:
Wenn es Lebensmittel aber umsonst
gibt, wird dann nicht deren Wert noch stärker abgewer-
tet?
Fellmer:
Seitdem ich von Menschen kostenlos Lebens-
mittel bekomme, hat meine Wertschätzung dafür un-
glaublich zugenommen. Man sieht eben denWert von Le-
bensmitteln nicht in Euro, sondern sie bekommen einen
ideellen Wert, den man gar nicht mit Geld messen kann.
Ganz wichtig dabei ist, dass alles freiwillig passiert.
Landeszentrale:
Was machen dann Bauern in Südameri-
ka, in Afrika oder Asien, deren Lebensgrundlage der
Konsum ihrer Waren in der westlichen Welt ist, wenn wir
nur noch „bio“ und lokal kaufen? Kann es nicht sein, dass
sie dann ihre Arbeit verlieren?
Fellmer:
Das ist ein bisschen wie die Geschichte der Men-
schen, die sagen, sie werfen alles auf die Straße, um den
Müllmännern Arbeit zu geben. Ich halte es für zynisch zu
sagen, die Menschen, die für uns die Baumwolle in Afri-
ka anbauen, kriegen durch uns Arbeit, und dann zu
schlussfolgern, dass ich aktive Entwicklungshilfe betrei-
be, wenn ich ganz viel Baumwoll-T-Shirts bei H&Mkau-
fe. Und genauso ist es auch mit Schokolade, Mangos …
Man muss sich erst einmal mit den Arbeitsbedingungen
und der Arbeit, die wir diesenMenschen „schenken“, aus-
einandersetzen. Oft werden dadurch auch gewachsene
Strukturen zerstört. Ich habe erlebt, dass, wenn wir ein-
greifen in andere Länder und deren Kultur, wir ganz viel
kaputt machen, was zuvor wunderbar funktioniert hat.
Wir sollten schauen, dass wir unseren Konsumismus nicht
als Wohltätigkeit tarnen und uns sozusagen rechtfertigen.
Oder uns sogar noch schönreden, wie wir durch Konsum
Realizing Utopia
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die Welt retten können oder Menschen aus Hunger oder
ihrer elenden Armut befreien.
Landeszentrale:
Sollten wir zum Beispiel versuchen,
wenigstens „Fairtrade“-Produkte zu kaufen?
Fellmer:
Es ist bestimmt ein Schritt in die richtige Rich-
tung, aber auch bei „Fairtrade“ ist nicht alles top. Wer sich
dort die Arbeitsbedingungen, die Bezahlungen etc. an-
sieht, merkt schnell, dass das da auch nicht viel besser
läuft. Deswegen sollte man ja versuchen, einfach so wenig
wie möglich zu konsumieren. Die vegane Ernährung ist
zum Beispiel ein ganz einfacher, aber sehr sinnvoller
Schritt, um seinen ökologischen Fußabdruck zu senken
(s. oben).
Landeszentrale:
Du warst bereits viel in der Öffentlich-
keit. Woher, meinst du, kommt das mediale Interesse an
deiner Person und deinem Lebensstil?
Fellmer:
Ich glaube, es ist gar nicht so sehr das Interesse
an mir und meiner Person, sondern daran, dass ich viel-
leicht etwas anspreche, was vielen Menschen am Herzen
liegt. Ich glaube, dass sehr viele Menschen sehr ähnlich
denken wie ich, aber für die Medien ist es auch wichtig,
jemanden zu zeigen, der praktisch etwas vorlebt. Es ist ja
nichts Neues, was ich mache, oder etwas Besonderes. Das
haben viele vor mir auch schon gemacht.
Landeszentrale:
Noch kann man aber sagen, dass Leute
wie du die Ausnahme sind. Glaubst du, dass ein paar Men-
schen, die anders denken, das Weltwirtschaftssystem be-
einflussen und verändern können?
Fellmer:
Ja, auf jeden Fall! Die meisten Menschen sind
sowieso Mitläufer. Der Großteil der Gesellschaft ent-
scheidet nicht, sondern macht mit. Wie die meisten Men-
schen auch Fleisch essen – nicht weil sie gerne Tiere töten,
sondern weil sie das so gelernt haben und ihr Umfeld das
auch so macht. Um einen Wandel zu ermöglichen, bedarf
es eigentlich nur eines kleinen Teils der Gesellschaft. Zum
Beispiel der Vegetarismus: Es gab 300 000 Vegetarier in
Deutschland, als ich geboren wurde. Heute, 30 Jahre spä-
ter, sind es Millionen, die sich dafür entschieden haben,
kein Fleisch zu essen. Es ist gerade ein starker Kultur-
wandel im Gange.
Landeszentrale:
Meinst du, du bekommst genügend ge-
sellschaftliche Rückendeckung bei dem Vorhaben, ein
überlebtes Konsumverhalten abzuschaffen? Oft kommen
ja nur die Leute auf einen zu, die sich bereits für solche
Themen interessieren. Man muss auch das Interesse der
Menschen wecken …
Fellmer:
… und das schaffe ich derzeit dank der Medien.
Ich kann durch die Medien darauf hinweisen, den eigenen
Konsum zu überdenken, oder Veganismus als Option für
ein nachhaltigeres Leben in den Raum stellen. Natürlich
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