2.7 / Sekundarstufe II: Wer die Wahl hat, hat die Qual
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Hat man sich erst einmal grundsätzlich dafür
entschieden, ‚etwas zu machen‘, beginnen
Suche und Auswahl der geeigneten Ange-
bote. Der erste Eindruck, wie sich das Un-
ternehmen präsentiert, kann schon auf-
schlussreich sein: Gibt es nachweisbare
anerkannte Abschlüsse und Qualifikationen
oder ergeht sich der Anbieter mehr in all-
gemeinen Versprechen, die mit Hilfe von
Superlativen (wie maximale Veränderung,
neueste Erkenntnisse) interessant gemacht
werden? Verfügen die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter über entsprechende Qualifikatio-
nen und welche Erfahrungen können sie
vorweisen?
Da der gewerbliche Markt mit Angeboten
zur Lebensbewältigung hart umkämpft ist,
sucht jeder Marktteilnehmer seinen Vorteil
darin, seine spezielle Nische zu etablieren
und dafür eigene Techniken und Methoden
zu entwickeln. Werbematerialien zeugen
fast immer von der enormen Kreativität,
neue Namen und neue Methoden (jeweils
mit entsprechendem Copyright versehen)
anzupreisen. So verständlich es ist, dass
Anbieter so genannte Alleinstellungsmerk-
male für sich reklamieren müssen, so sinn-
voll ist es auch, diese Anschauungen und
Methoden sachlich zu prüfen. Was also
steckt hinter den eingängigen Bezeichnun-
gen, welche einzelnen Schritte enthält die
jeweilige Methode? Ein Vergleich der eige-
nen Ziele mit den behaupteten Verspre-
chungen zeigt auf, ob und wie weit sie de-
ckungsgleich miteinander sind. Kurstitel
und Ausschreibungen alleine können in der
Regel noch nicht Maßgabe dafür sein.
Weltanschaulich geprägte Angebote, die
Denken und Leben verändern
Bei Angeboten auf dem gewerblichen Le-
benshilfemarkt
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findet man häufiger als
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Gewerblicher Lebenshilfemarkt (oder gewerbliche
Lebensbewältigungshilfe): Ein Arzt behandelt, ein
Psychotherapeut therapiert. Doch es gibt darüber
hinaus eine Vielzahl von Anbietern und Methoden
zur Unterstützung des Menschen auf seinem Le-
bensweg, damit er gesund, glücklich, erfolgreich,
zielorientiert etc. seinen Alltag meistern kann. Wenn
die Anbieter finanzielle Gegenleistungen für ihre
Dienste verlangen, spricht man von der gewerblichen
Lebensbewältigungshilfe. Da der Verbraucherschutz
auf dem Lebenshilfemarkt äußerst unterentwickelt
anderswo weltanschauliche Aussagen. Sie
schwingen mehr oder weniger explizit mit,
wenn von der Wirkung des Produktes oder
der Dienstleistung die Rede ist. Nach und
nach wird darauf hingearbeitet, dass alle
bisherigen Werte und Normen, alle bisheri-
gen Erkenntnisse ungenügend oder falsch
sind und man seine wahren Chancen nur
dann ergreifen kann, wenn man sich die
neuen Einsichten zu Eigen macht. In der
Folge werden dann naturwissenschaftliche,
psychologische und/oder (schul)medizinische
Erkenntnisse einseitig referiert und gegen
die neu anzunehmende (Welt)Anschauung
ausgespielt. Letztere erfährt ihre Begrün-
dung nicht selten in größeren kosmologi-
schen Zusammenhängen, tieferen psycho-
logischen Erkenntnissen oder neuesten
wissenschaftlichen Erkenntnissen, die alles
Vorherige revolutionieren sollen. So be-
kommen beispielsweise Teilnehmerinnen
bei einem Coaching-Anbieter erst einmal
ein negatives Gesellschaftsbild eingeimpft
(„Frauen werden unterdrückt und müssen
sich endlich dagegen zur Wehr setzen“),
ein Heilpraktiker behandelt vornehmlich die
feinstoffliche Materie
und bei einem Persön-
lichkeitstraining erfahren die Teilnehmerin-
nen und Teilnehmer, dass nur das Über-
winden gesellschaftlicher und persönlicher
Grenzen zur vollkommenen Erfüllung führt
(konkret bedeutet dies dann praktizierte
freie Liebe und ausschweifender Genuss
von Alkohol und Drogen). Leider kommen
die wahren weltanschaulichen Überzeu-
gungen und deren abstruse Handlungswei-
sen häufig erst im Verlauf eines Seminars
zum Vorschein; also dann, wenn das kriti-
sche Bewusstsein schon nicht mehr so
aufmerksam ist oder die Hürde, den Kurs
abzubrechen, höher ist als vor der Geld-
überweisung und dem Antritt der Ausbil-
dung. Nichtsdestotrotz sollte man sich nicht
überrumpeln lassen und seine Rechte ver-
teidigen. Wenn auch spätere juristische
Schritte gegen den Anbieter nicht vollum-
fänglich erfolgreich sind – lieber zahlt man
ein gewisses Lehrgeld, als später noch ab-
hängiger oder sogar traumatisiert zu sein.
ist, gab es in der Vergangenheit mehrfach Versuche,
klare
rechtliche Regeln für diesen stetig wachsenden
Markt durchzusetzen. Ein
Lebensbewältigungshilfe-
gesetz
ist bis heute nicht verabschiedet worden.