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2.7 / Sekundarstufe II: Wer die Wahl hat, hat die Qual

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zahlt, hat sich die Sache reiflich überlegt

und möchte, dass es nun los geht. Soweit

so gut. Wenn allerdings der Tagesablauf

völlig anders geplant ist als sonst üblich,

oder wenn es enge verbindliche Essens-

vorschriften gibt, sollte man zumindest kri-

tisch nach den Gründen fragen. In Bera-

tungsgesprächen wird immer wieder davon

berichtet, dass z. B. alle Teilnehmerinnen

und Teilnehmer nur vegane Kost vorge-

setzt bekamen; eine Alternative gab es

nicht. Andere berichten, dass sie schon

morgens um 5 Uhr geweckt wurden oder

aber bis spät in den Abend hinein mit Pro-

gramm vollgestopft wurden. Dass der

Schlafentzug genauso wie die Nahrungs-

umstellung, zumal von einem Tag auf den

anderen durchgeführt, weitreichende psy-

chische Konsequenzen hat, ist den wenigs-

ten bewusst. Wer jedoch um seinen Schlaf-

rhythmus gebracht wird, wer keine Zeit

zum Nachdenken und zur Erholung hat, ist

schutzlos den Trainerinnen und Trainern

mit deren Manipulationsversuchen und

Indoktrinationen ausgeliefert. Die Teilneh-

merinnen und Teilnehmer nehmen dies

häufig gar nicht bewusst wahr. Natürlich

merken sie, dass es anstrengend ist. Aber

dass dies eventuell Methode haben könnte,

um sie „offener“ zu machen, bleibt ihnen

vorenthalten. Stattdessen sind sie umso

mehr davon überzeugt, alles freiwillig ge-

macht zu haben, was aber nur bedingt

stimmt.

Textbeispiel 6

Sarah, 23, besucht gemeinsam mit einer

Freundin ein Wochenendseminar zum

Thema Potenzialentfaltung. Anfangs fällt

ihnen auf, dass im Zeitplan für das Seminar

keine Pausenzeiten aufgeführt sind – damit

dauern die Einheiten jeweils min. 5 Stun-

den am Stück. Der Coach beruhigt die

Teilnehmer jedoch schnell: Jeder könne

jederzeit individuell eine kleine Auszeit

nehmen. Am Freitag beobachtet Sarah

noch einzelne Teilnehmer, die kurzzeitig

den Raum verlassen, am Samstag tut dies

praktisch niemand mehr. Sie selbst sieht

gar keinen Grund für eine Unterbrechung,

schließlich vermag es der Coach, seine

Inhalte fesselnd und unterhaltsam zu prä-

sentieren, so dass sie gar nicht merkt, wie

die Zeit vergeht …

Stichwort

Ganzheitliches Lernen

Textbeispiel 7

Wir alle sagen oft, dass wir an unsere

Grenzen kommen. Meistens sind das

Grenzen, die uns auferlegt werden, die uns

in der Erziehung eingetrichtert wurden und

an die wir uns blind halten, ohne jemals

nach dem Sinn gefragt zu haben. Denn

dann stellen wir bald fest, dass dieser Sinn

gar nicht da ist, dass wir uns völlig ohne

Grund einengen lassen. Und dann sind wir

an dem Punkt, an dem wir diese Grenzen

für nichtig erklären und uns endlich aus-

probieren, endlich LEBEN. Und es kommt

uns unglaublich vor, in welcher sinnlosen

Einengung wir so lange leben, nein, dahin-

vegetieren konnten. Und genau das wer-

den wir nun mit einer kleinen Übung abstel-

len. Schaut euch euren Sitznachbarn an

und dann stellt euch vor, ihr wärt nicht

durch falsche Scham und Moralität einge-

engt. Stellt euch vor, ihr wärt nackt, ganz

unbekleidet. Die ganz Mutigen können es

auch ausprobieren…

(fiktives Beispiel aus einem Persönlich-

keitsentfaltungsseminar)

Seminare, vor allem aber Trainings bieten

die besondere Möglichkeit, die reine Wis-

sensvermittlung anzureichern mit ganzheit-

lichen Erfahrungen. Die Methodenvielfalt

scheint unergründlich. Immer neue Lernfel-

der werden entwickelt. Die Natur wird hier-

bei genauso in Anspruch genommen wie

der Körper. Wandern, Klettern, Schwim-

men, bewusstes Gehen, Körperübungen

wie Massagen, Streicheln oder Kämpfen

finden genauso Anwendung wie Stille-

übungen, Singen oder ungehemmtes

Schreien. Selbstverständlich kommt es bei

diesen Methoden nicht darauf an, die Fer-

tigkeiten zu trainieren (nach dem Motto

„Wer klettert als Schnellster auf den

Baum“). Vielmehr sind die Methoden Mittel

zum Zweck. Die Teilnehmer sollen an ihre

Grenzen geführt werden, damit sie ihre

ausgetretenen Pfade verlassen. Sie sollen

Kraft und Ausdauer entwickeln wie auch

Mut und Kreativität, damit sie – so die un-

ausgesprochene Theorie dahinter – auch

ihre Alltagsaufgaben mit neuer Kraft und

besserer Kreativität meistern lernen. Ob