aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 18

aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
krieg restlos unter, auch die reichen Bestände der
Kunstakademie wurden zum größten Teil zerstört.
Als in den späten 60er Jahren die ›revolutionären‹
Münchner Akademiestudenten die letzten Reste
der ‚verstaubten’ Gipse zertrümmerten, hielten sie
sich für progressiv. In Wirklichkeit waren sie aber
der Zeit hinterher. Denn die großen Künstler der
Moderne hatten zu dieser Zeit schon wieder die
Antike auf neue Weise für sich entdeckt. Mag heute
auch ihr Umgang mit den antiken Formen spieleri-
scher und respektloser als früher sein, es gibt nicht
wenige Künstler, die wieder eine malerische und
zeichnerische Auseinandersetzung mit den klas-
sischen Formen suchen: Die Ausstellungen von
Eduardo Paolozzi und seinen Schülern (1988), von
JimDine (1990) und Joannis Avramidis (1999) in
der Glyptothek können – stellvertretend für viele
andere Künstler – dies zeigen.
Auch die verschiedenen
öffentlichen und privaten
Kunstschulen, »Pädagogischen Aktionen« usf. ent-
deckten ab den 70er Jahren das Zeichnen in der
Glyptothek für sich. Ein Beispiel sei angeführt. Im
Jahre 1999/2000 bot das Münchner Bildungswerk
e. V. einen Zeichenkurs an. Das Thema war: »Ge-
naues Formenstudium an den Skulpturen unter
Berücksichtigung der menschlichen Anatomie«.
Das weitere Ziel, nämlich die Entwicklung eines
individuellen zeichnerischen und malerischen Zei-
chenstils mit den Mitteln und Möglichkeiten der
modernen Kunst, war schon ambitionierter. Von
den Ergebnissen dieses Kurses haben wir 2001 eine
kleine Ausstellung gezeigt, von denen hier zwei Bei-
spiele abgebildet sind. Wer die gezeichneten Skulp-
turen nicht erkennt, müsste dringend mal wieder
die Glyptothek besuchen. Keiner der ausgestellten
Zeichner hatte ein Kunststudium. Sie kamen aus
den verschiedensten technischen, kaufmännischen
oder naturwissenschaftlichen Berufen. Viele hat-
ten das Berufsleben schon hinter sich, waren im
sogenannten Ruhestand. Zwei Jahre lang trafen
sie sich einmal die Woche im Museum. In selbst-
vergessener Konzentration saßen sie stundenlang
zeichnend vor den Figuren.
Eine Erfahrung, die in unserer Zeit schon selbst
einen Wert darstellt und die Frage nach dem
künstlerischen Wert der entstandenen Zeich-
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