aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 14

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aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
Linien zu überzeichnen? Die Möglich-
keit, etwas als Figur zu erproben, was
nicht sichtbar ist, sondern nur inmeinen
Gedanken? Etwas zu konkretisieren und
sichtbar zu machen, damit es überprüft
werden kann, dass es eine Erinnerung
fixiert, die nicht schwinden soll? Das sind
alles Facetten der Möglichkeiten, die das
Zeichnen eröffnet.
Das Papier öffnet
einen Raum
für Spielregeln, die man selbst erfindet.
Ein Ort für Probehandeln statt wirkli-
chen Agierens, für Entwerfen und Er-
finden. Das wären schon einige Vorzüge
von Bleistift und Papier, vom Zeichnen.
Es würde erklären, warum nicht nur in
der Kunst, sondern auch in denWissen-
schaften das Zeichnen seinen festen Platz
hat und dies schon seit Jahrhunderten.
Es erlaubt, Gedanken und Gefühle mit-
tels Linien aufzuzeichnen, ihnen einen
sichtbaren Ort zu geben und damit in
der Visualisierung auch für das Denken
verfügbar zu machen. Dies nutzen Künstler wie Naturwissen-
schaftler der frühen Neuzeit ebenso wie die zeitgenössischen
Wissenschaftler und es ist faszinierend nachzuvollziehen,
wie der Bildwissenschaftler Horst Bredekamp in »Darwins
Korallen« (2005) anhand von laienhaften Skizzen nachvoll-
zieht, wie eine der wesentlichsten Errungenschaften der Wis-
senschaft, die Evolutionstheorie, im Wechselspiel von zeich-
nendem Handeln und Denkprozessen stattfindet. Darwin,
Leibniz, Galilei, Hobbes – sie alle zeichneten, so zeigt Bre-
dekamp – und sie alle profitierten in ihrer Forschung vom
Zeichnen: In der Visualisierung der gezogenen Linien wird
reflektierbar, inwieweit eine noch nicht greifbare und sprach-
lich nicht zu fassende Idee als Realisierung möglich erscheint.
Mit der Hand denken
Die Neurowissenschaft weiß heute in Ansätzen um die kom-
plexen neuronalen Leistungen, die notwendig sind, um eine
komplexe Handlung wie das Zeichnen mit allen Transforma­
tionen vonWahrnehmen und Handeln zu vollziehen. Der Neu-
rowissenschaftler und Physiker Ingo Rentschler argumentiert
aufgrund seiner Forschungen am Institut für medizinische Psy-
chologie der Universität München und seiner Forschung um
mental rotation
, wenn er die Bedeutung des Zeichnens und
oben links
Nick Devereux,
»Flakturm I«, 2013, Kohle auf
Papier, 60 x 80 cm.
daneben
Barbara Ruppel, »Zwerg-
ohreule«, verdünnte Chinesische
Tusche, 2010. Barbara Ruppel ist
seit 1963 als wissenschaftliche
Zeichnerin tätig.
unten links
Nanne Meyer,
»Zeichnung 2«: Jahrbuch XXII
2009/2010, 528 Seiten, Seite
161/162, Gouache, Bleistift und
Farbstift, Collage,
Doppelseite 30 x 49 cm.
daneben
Matthias Beckmann,
»Chirurgie«, 2008,
Bleistift auf Papier,
29,7 x 21,0 cm.
Mit freundlicher Genehmigung von Nick Devereux | Barbara Ruppel | Nanne Meyer | Matthias Beckmann
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