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aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
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Barbara Lutz-Sterzenbach
,
Kunstpädagogin und Künstlerin,
absolvierte vor einem Studium der Kunst an der Akademie der
Bildenden Künste München zunächst ein Studium der Kunst-
pädagogik und Germanistik an der Ludwig-Maximilians-Univer­
sität. Seit 2003 redigiert sie die Fachzeitschrift BDK INFO
und ist zudem Mitherausgeberin der Zeitschrift KUNST 5-10 im
Friedrich Verlag. Seit 2007 ist sie Vorsitzende des Fachver-
bandes für Kunstpädagogik BDK e.V. in Bayern. Ihre Disserta-
tion mit dem Thema »Zeichnen als Erkenntnis – Eine Unter-
suchung epistemischer Zeichenszenen aus kunstpädagogischer
Perspektive« erscheint im Jahr 2015.
Literatur und Links zum Weiterlesen
Lutz-Sterzenbach, Barbara/Kirschenmann, Johannes (Hg.):
»Zeichnen als Erkenntnis. Die Publikation zum gleichnamigen
BDK INFO. Zeitschrift des Fachverbandes für Kunstpädagogik
in Bayern, insbesondere die Hefte 19/2012, 20/2013 und
Gründler, Hana/Hildebrandt, Toni/Pichler, Wolfram (Hg.):
»Zur Händigkeit des Zeichnens«, RHEINSPRUNG 11. Zeitschrift
für Bildkritik, @eikones 03. Basel 2012
Richtmeyer, Ulrich/Goppelsröder, Fabian/Hildebrandt, Toni
(Hg.): »Bild und Geste. Figurationen des Denkens in Philosophie
und Kunst«, Bielefeld 2014
Bredekamp, Horst: »Darwins Korallen. Frühe Evolutionsmodelle
und die Tradition der Naturgeschichte«, Berlin 2005
Gysin, Béatrice (Hg): »Wozu zeichnen? Qualität und Wirkung
der materialisierten Geste durch die Hand«, Sulgen/Zürich
2010 (2. Auflage)
Die auf vier Bände angelegte, von Christoph Hoffmann und
Barbara Wittmann herausgegebene Reihe »Wissen im Entwurf«
leistet mit präzisen Materialstudien zur Funktion von Schrift
und Zeichnung in den Wissenschaften und Künsten der Moderne
einen Beitrag zur Reflexion schrift- und bildwissenschaftlicher
Fragestellungen in Philosophie, Literaturwissenschaft, Kunst-
und Wissenschaftsgeschichte.
Nancy, Jean-Luc: »Die Lust an der Zeichnung«, Wien 2011.
den Begriff des
motorischen Denkens
imZeichnen unterstützt.
(Der Text »...und sie bewegt sich doch« – wird in der Publika-
tion »Zeichnen als Erkenntnis«. Lutz-Sterzenbach, Barbara/
Kirschenmann, Johannes, München 2014/15, veröffentlicht).
Die Unterschiede zwischen
analoger und digitaler
Aneignung sind mittlerweile Gegenstand unterschiedlicher
Forschungsstudien. Kognitionspsychologische Studien ver-
gleichen z. B. Methoden des analogen und digitalen Notie-
rens hinsichtlich des Erwerbs von Wissen und betonen den
Vorteil
händischen
Schreibens bzw. Zeichnens im Wissens-
erwerb. Der Stift sei im Wissenserwerb »mächtiger« als die
Tastatur, so das klare Ergebnis. Das nachdrückliche Plädoyer
des Philosophen und Physikers Eduard Kaeser (2012), der ver-
gleichbare Studien zitiert, lautet: »Intelligenz braucht Finger«,
eine Intelligenz, die im körperlichen-sinnlichen Handeln des
Schreibens und Zeichnens sich in spezifischer sowie nach-
haltigerer Weise entfalten kann. Die »fortschreitende Ent-
körperlichung unserer Intelligenz« sei besorgniserregend, so
warnt er, »in den digitalen Technologien eine höchst defizitäre
Anthropologie« verborgen. Ist das der Kern der Besinnung
auf das Zeichnen? Die Sehnsucht nach der Sinnlichkeit und
Taktilität des Körpers?
Zeichnen kann mit Bezug auf neurowissenschaftliche For-
schung als körperlich-sinnliches Handeln mit einer hohen
»Ich-Nähe« charakterisiert werden. Es ist ein eingeübter und
fast ritualisierter Ablauf, der als unmittelbar zur Person zuge-
hörig erlebt wird. Oft wird es als lustvoll empfunden, die Zeit
zu vergessen. Denn Zeichnen braucht Zeit und es wundert
nicht, wenn ein herausragender Forscher undWissenschaftler
wie Wolf Singer, Direktor der Abteilung für Neurophysiolo-
gie am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, nachdrück-
lich mehr Kunstunterricht an den Schulen fordert, um aus-
reichend Zeit dafür zu gewinnen, zeichnend »Schwebungen«
und »Befindlichkeiten« auszudrücken, »neue Blicke auf die
Welt zu eröffnen« (2009).
In seiner Einführungsrede des Symposions »Zeichnen als
Erkenntnis« begründet der Künstler und Präsident der Aka-
demie der Bildenden Künste in München, Dieter Rehm, die
Plausibilität eines transdisziplinären Diskurses über dieses
Medium mit dem Verweis auf die Körperlichkeit und Leib-
lichkeit des Zeichnens und seine Potenzialität des freien
offenen Agierens: »Aber in der Beschleunigung der Medien,
dem Zerfallen der Gattungen und dem Verschwinden eines
gemeinsamen Horizontes, worin und wodurch sich das Kunst-
schöne begründen lässt, hat es eine gewisse Evidenz, sich auf
das Ursprüngliche und das Nächste zurückzubesinnen. Die
Zeichnung als Spur des Leibes in das Offene«, so Rehm im
Oktober 2013.
Denn das Zeichnen
öffnet gerade in der Möglichkeit
der Vagheit und Offenheit des Setzens von Linien einen
Mög-
lichkeitsraum
, den die Sprache so nicht bietet und auch die
digitalen Medien nicht bieten können: »Offenkundig reicht
das begriffliche Denken bis in Zonen des Zeichnens, in
denen die zeichnende Hand selbst die Spontaneität ihrer
Motorik ins Spiel bringt. Dies bedeutet, dass im Nicht-
Intentionalen nicht nur die Bedingungen der Fantasie, son-
dern auch der Bindung und der abstrahierenden Verallge-
meinerung angelegt sind«, so Bredekamp in seinem Vortrag
an der Münchner Kunstakademie im Oktober 2013. »Keine
Zeichnung ist unbedeutend genug, als dass sie nicht der
Betrachtung wert wäre. Denn sie vollzieht jeweils neu das
Wunder, in der Materialisierung ihrer selbst nicht etwa pla-
tonische Ideen zu realisieren, sondern in einem bildakti-
ven Wechselspiel mit den Mustern ihrer selbst die Trias von
motorischer Formung, bildaktivem Geformtwerden und
semantischer Schöpfung Ideen nicht zu illustrieren, sondern zu
erzeugen.«
Selber zeichnen
Genug gelesen. Nun legen Sie das Heft beiseite, greifen Sie zu
Papier und Bleistift und zeichnen! Kritzeln Sie beimTelefonie-
ren, was Ihnen in den Sinn kommt, folgen Sie blind zeichnend
den Linien Ihrer Handflächen, spielen Sie mit den Spuren des
Bleistiftes, des Kugelschreibers, des Markers. Nehmen Sie auf
Ihre nächste Reise ein Skizzenbuch mit. Werden Sie zeich-
nend aufmerksam, führen Sie Linien spazieren. Zeichnen Sie.
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