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aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
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zeichnet) mit einem
lebendigen Einblick in die Ateliers ver-
anschaulichte. In Stuttgart wurde 2013
mit »Linienscharen« eine Plattform für
zeitgenössische Zeichnung gegründet,
die neben der Präsentation v. a. auch als
Forum und Netzwerk für überregiona-
len Austausch zum Zeichnen fungiert
).
Die Zeichnung etabliert sich auch außer-
halb der Kunst: Zeitschriften und Zeitun-
gen bevorzugen wieder gerne grafische
Illustrationen,
gezeichnete
Musikvideos
werden produziert, ein Genre wie Gra-
phic Novel wird salonfähig. Seit wenigen
Jahren kann man zudem in den kleinen
und großen Städten aller Länder immer
häufiger Zeichnende beobachten, die in
Cafés, auf Plätzen und Straßen stehend
und sitzend ihren Blick auf Menschen
und Architekturen mit Stiften auf Pa-
pier notieren. Die
Urban Sketchers
haben
sich in nicht mal zehn Jahren zu einer
weltweiten Gemeinschaft entwickelt, die
ihre Zeichnungen nicht nur über soziale
Netzwerke wie Facebook oder twitter aus-
tauschen und kommentieren: In New
York ebenso wie in Madrid, Berlin oder
München treffen sich zeichnerische Laien
oder Künstler zu gemeinsamen
sketch
crawls
– Skizzentouren – und entdecken
gemeinsam zeichnend die Kultur und
den in den verschiedensten Regionen.
Zeichnen fungiert dabei oftmals als das
Kommunikationsmedium über Sprach-
grenzen hinweg. So zeichnen täglich Tau-
sende von Menschen und tauschen ihre
Reisereportagen, Bildertagebücher und
Skizzen aus – Zeichnung umZeichnung
ein neuer Blick auf die Welt.
Mit dem Bleistift das Universum
erkunden
Eigentlich seltsam, da doch die digita-
len Medien so viel schneller sind, so viel
perfekter als das langsame, fehleranfäl-
lige händische Zeichnen. Warum also
zeichnen? Seltsam auch die Antwort der
Physikerin Lisa Randall auf die Frage
des Journalisten Hubert Filser, die in
einemArtikel der Süddeutschen Zeitung
mit dem schönen Titel »Die Himmels-
tür ist beweglich« zu lesen war: Wie be-
deutsam der Besuch im Large Hadron
Collider (LHC), dem weltgrößten Teil-
chenbeschleuniger am Europäischen
oben
Charles Darwins drittes Evolutions-
diagramm aus »Notebook B«, Federzeichnung,
1837, Cambridge, University Library,
Dar. Ms 121, Fol. 36.
rechte Seite oben
Jorinde Voigt,
»WV 2012-171
Ludwig van Beethoven/Sonate Nr. 32
(Opus 111)
1. Satz (159 Takte insgesamt):
Maestoso 4/4 – 16 Takte
Allergro con brio ed appassionato 4/4 –
143 Takte
2. Satz (177 Takte insgesamt): Arietta
(Adagio molto semplice) 9/16 – 32 Takte
L’istesso tempo 6/16 – 16 Takte
L’istesso tempo 12/32 – 129 Takte
Himmelsrichtung N-S; Rotationsrichtung/
Rotationsgeschwindigkeit; 2 Interne Zentren;
4 Externe Zentren;
Extract Intonation + Dynamic; Beat; Loop«,
Toronto 2012,
86,5 x 140 cm,
Tinte, Bleistift auf Papier,
Unikat,
Signiert.
rechte Seite unten links
Michel Dector
und Michel Dupuy, »Autoportrait d’un chien«,
aus der Serie »Les dessins des autres«.
daneben
Zeichnende Teilnehmerinnen und
Teilnehmer des Symposion »Zeichnen als
Erkenntnis«, Akademie der Bildenden Künste
München, Oktober 2013.
auf die Wand zeichnet. Nicht weniger spannend
sind die internationalen kunstpädagogischen For-
schungsbefunde: Wie erkunden Kinder zeichnend
die Welt (Edith Glaser-Henzer)? Wie lässt sich in-
dividuelleWelterfahrung durch die Hand beschrei-
ben (Beatrice Gysin)? Wie lässt sich Zeichnen im
Kindes- und Jugendalter in allen Facetten charak-
terisieren und befördern (Bettina Uhlig)?
Vierhundert Teilnehmerinnen
und Teil-
nehmer greifen auf Vorschlag des Künstlers und
emeritierten Akademieprofessors Fridhelm Klein
zu Bleistift und Papier, sitzen wie in einer über-
dimensionalen Schulklasse zeichnend zusammen,
verlassen ihren gewohnten Ort der Sprache und
begeben sich in die weiße Fläche des Zeichenrau-
mes. Das ist immerhin ungewöhnlich. Ebenso
ungewöhnlich ist der Zugriff auf die videografierten
Vorträge des Symposions, die kurze Zeit später im
fast zwanzigtausend Interessenten, die Zahl steigt
ständig. Für ein Popkonzert mag das wenig beein-
druckend sein, aber für einen wissenschaftlichen
Kongress? Über
Zeichnen
?
Wenige Monate später, imMai 2014, trifft sich ein
etwas anders gestricktes Publikum in Nürnberg im
Germanischen Nationalmuseum, um über »Bild-
nerisches Gestalten und kreatives Schreiben in der
Entwicklung des Menschen« zu diskutieren. Wie-
der versammeln sich Kunstwissenschaftler und
Kunstpädagogen, diesmal bereichern Kreativitäts-
forscher, Schriftsteller, Psychologen, Fachdidaktiker
und Kunsttherapeuten den wissenschaftlichen Dis-
kurs. Der Kongress ist der Höhepunkt eines jahre-
langen interdisziplinären Verbundforschungspro-
jektes, welches in großem Umfang Daten zu den
Themenfeldern »Bild und Text, Kreativität und
Bildung, Biographie und Identität, Methoden und
Instrumente« zusammenträgt, diskutiert und diese
nun publizieren will. Das Zeichnen spielt in diesen
Linien über Sprachgrenzen ziehen
Die »vergessene Zeichenkunst« – so formulierte
Vasari vor 500 Jahren, um sie vor allen anderen
Künsten als
grundsätzliches Prinzip
und
mentalen
Habitus
auszuzeichnen – taucht in vielerlei Kon-
texten in den letzten Jahren aus einer Versenkung
wieder auf, die der rasanten Entwicklung der digi-
talenMedien geschuldet ist. Nicht nur die Künstle-
rinnen und Künstler selbst erproben und entdecken
das Medium Zeichnung wieder – wie die Ausstel-
lung »München zeichnet« 2013
Bilder, zitiert nach Horst Bredekamp, »Darwins Korallen. Frühe Evolutionsmodelle und die Tradition der Naturgeschichte«, Berlin 2005 | Mit freundlicher Genehmigung von Jorinde Voigt | Dector und Dupuy | Tom Garrecht
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