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aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
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und Athleten stehen
M o d e l l
der Glyptothek, und sein geschätzter Hofklassi­
zist Bertel Thorvaldsen, würden schreckens-
starr erbleichen beim Anblick der respektlosen
Kunst- und Zeichenübungen, zu denen man diese
Tage die Glyptotheksbesucher munter auffor-
dert. Und noch ist nicht abzusehen, ob sich die
Geister der Rivalen Leo von Klenze (königlicher
Architekt) und Johann Martin Wagner (könig-
licher Antikenaufkäufer) nicht verbinden zum
gemeinsamen Rachezug auf den Münchner
Königspatz.
In den Augen
dieser ehrenwerten Musentempel-
gründer nämlich kann keinesfalls segensvoll und
kunstfromm sein, was derzeit – unter den Aspekten
moderner Pädagogik und ungezwungener Kunst-
kommunikation – erlaubt ist.«
Aber dann folgt in dem Artikel die klare Aussage:
»natürlich wollen wir nicht den königlichen Grün-
derzorn auf dies gerade in Archäologenkreisen
ungewöhnliche Unternehmen herabzitieren. Im
Gegenteil finden wir diese Aktion durchaus bei-
fallswürdig.«
Über die damaligen
Kritiker und ihre Entweihungs-
ängste kann man heute nur noch lachen. In den
letzten Jahrzehnten wurden in der Glyptothek viele
Ausstellungen von Werken moderner Künstler, von
Malern, Bildhauern und Fotografen, gezeigt. Oft
waren es bekannte Namen. Auch diese Ausstellun-
gen gefielen nicht jedem. Dennoch: Das Gegen-
überstellen von antiker und moderner Kunst hat
inzwischen in der Glyptothek ebenso Tradition
wie das Zeichnen der Antiken. Und dieses Zeich-
nen kam in der langen Geschichte der Glyptothek
erst durch diese Aktion in Mode: In den fast 110
Jahren, von der Eröffnung der Glyptothek (1830)
bis zu ihrer durch den Krieg bedingten Schließung (September 1939),
ist das Zeichnen im Museum, wie auch Archivunterlagen bestätigen,
ganz unüblich gewesen.
Dies ist leicht
zu erklären: Wer sich im 19. Jahrhundert zeichnerisch
an der antiken Skulptur schulen wollte, ging nicht in die Glyptothek,
sondern in die Sammlungen von Gipsabgüssen antiker Skulptur, wie
sie in der Kgl. Akademie und später auch im archäologischen Seminar
der Universität vorhanden waren. In den Gipssammlungen waren nicht
nur die berühmtesten Meisterwerke der Antike versammelt, sondern
diese konnten vom Zeichner auch bewegt, gedreht und ins richtige Licht
gerückt werden. Und das ging mit den Antiken der Glyptothek nicht.
Die Idee des Schönen lernen
Solch ein Zeichnen von Gipsabgüssen gehörte seit dem 17. Jahrhun-
dert zur Grundausbildung jedes Kunststudenten. Dabei sollten sie die
»Idee des Schönen« lernen. Das sind die Worte nicht eines blutleeren
Klassizisten oder eines verstaubten Akademieprofessors, sondern eines
berühmten Barockbildhauers, Architekten und Malers – Gianlorenzo
Bernini. Er empfiehlt im Jahre 1665 der Pariser Académie des Beaux-
Arts: »…Gipsabgüsse von sämtlichen schönen Antiken anzuschaffen.
Statuen, Reliefs und Büsten, damit die jungen Leute daran lernen. Man
lässt sie die antiken Modelle abzeichnen, um ihnen zunächst die Idee
des Schönen beizubringen, an die sie sich dann das ganze Leben hal-
ten können. Es hieße sie verderben, wenn man sie von vorneherein vor
das Naturmodell setzt.«
Über 200 Jahre
wurde an allen Akademien Europas das Zeichnen von
antiken Skulpturen geübt. Am Ende des 19. Jahrhunderts mehrten
sich die Zweifel an der Vorbildhaftigkeit der Antike. Eine Tendenz, die
sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch verstärkte. Nach
dem 2. Weltkrieg wurde in vielen Kunstschulen der Welt das Zeichnen
nach Antiken als Ballast empfunden und aus dem Lehrplan gestrichen.
In nicht wenigen Akademien und Museen glaubte man, sich jetzt von
den Gipsabgüssen, diesen weißen Gespenstern, ›befreien‹ zu müssen.
In München war die ›Befreiung‹ schon erfolgt: Nicht nur die riesige
Abgusssammlung des archäologischen Seminars ging im Bomben-
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