aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 26

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Auf der Spitze der
Text:
Thomas Heiber
Konzentration ist eines
der interessanten Phäno-
mene, dessen wir als Mensch fähig sind. Dies in
einem weiten Spektrum: ob es der geniale Schuss
auf ein Tor, das Spiel eines begnadeten Musikers,
die Hochkonzentration eines Schachgenies, die fast
magischen Hände eines außergewöhnlichen Arz-
tes oder die kreative Lösung eines mathematischen
Problems ist. Bei allen spielt Konzentration oder
Konzentrationsfähigkeit die entscheidende Rolle.
In der Kunst halte ich sie für das eigentliche Agens,
ja vielleicht sogar für ihr Wesen.
Zweifelsfrei dürfte die enorme, auch finanzielle
Wertschätzung von Konzentration sein. Warum
sitzen während einer WM sonst so viele Menschen
vor den Spielen, folgen demBall bis in den kleinsten
Winkel und schreien ihre Euphorie heraus, wenn
eine Mannschaft so konzentriert zusammen spielt,
dass es zum Tor reicht. Glückt das nicht, geht eine
Welt unter. Das gilt für jeden Bereich von Hoch-
Konzentration. Feuilletons leben davon.
Zeichnen stellt in
Europa eine Art Königsweg zur
Konzentration da. Darin geborgen ist nicht nur ein
Weg zu Erkenntnis, objektiv wie subjektiv, mehr
subjektiv, weil es in der Kunst und in der Konzen-
tration tatsächlich auf den Einzelnen ankommt.
In Asien ist der Weg der Konzentration uralte Kul-
tur. Zen und die damit verbundenen Künste legen
davon Zeugnis ab. Sie reichen bis in den letzten
Grund vonMenschsein. Konzentration war schon
immer Teil von Religion, auf der Seite der Darstel-
lung, aber besonders auf der Seite der Erfahrung.
Alle religiösen Wege, die wir weithin zur Mystik
zählen, sind mit Konzentration und Übung verbun-
den. Der hier angebotene Text möchte skizzenhaft
phänomenologisch die darin geborgene menschli-
che Notwendigkeit herausarbeiten.
Die Kopie
Wenn eine Zeichnung zu kopieren ist, dann bedeu-
tet es, den Linien der zu kopierenden Zeichnung
auf einem eigenen Blatt so genau wie möglich zu
folgen. Das klingt banal, enthält aber die Essenz
des hier zu Sagenden. Überspitzt dargestellt: Man
könnte eine gleiche oder ähnliche Leistung darbie-
ten, in demman einfach dieselben Bewegungen auf
den Tasten eines Klaviers vollbringt, wie dies einer
der großen Pianisten tut. Gelingt das nicht, fehlt es
an Konzentration. Natürlich gibt es gewisse kör-
perliche Voraussetzungen wie etwa die Handgröße.
Auch ist der Muskelaufbau erübt, wie die enorme
Koordination der Finger, des Arms, des Körpers
und des Geistes. Der Geist übernimmt dabei die
unabdingbare Äußerung der Lebendigkeit. Leben-
digkeit sind die feinen Nuancen, die nur aus einem
unmittelbaren Erleben heraus entstehen können.
Erleben ist stets Antwort auf eine spezifische Situa-
tion. Beim Pianisten ist dies in erster Linie das Kla-
vier und dessen Tücken, die er durch konzentrier-
tes Üben sich hat erobern müssen. Ist das Erleben
ganz seine Situation geworden, haben Instrument
und Spieler zur Konzentration gefunden, dann
erleben wir große Kunst. Meist ahnt man nicht,
wie weit der Weg dahinter ist.
Zeichnung und Gegenwart
In der Zeichnung ist diese Lebendigkeit der Linie
Abbild der Gegenwart des Zeichnenden. Gegenwart
bedeutet einfach Übereinstimmung von Situation
und Subjekt. Das Instrument des Zeichners ist ein
Stift. Einen solchen kennt jeder. Da ist ein riesi-
ger Unterschied zu der notwendigen Feinabstim-
mung jedes einzelnen Fingers zu den Tasten des
Klaviers.
I
n der asiatischen
Kalligraphie ist diese Überein-
stimmung oder Lebendigkeit bzw. die seismogra-
phische Darstellung derselben der Angelpunkt
der Kunst. Sie ist zeitlich. Am Zenit enthält sie die
gesamte Lebenskraft des Schreibenden. Diese
Gesamtheit wäre das, was wir Konzentration nen-
nen. Oder zeitlich gesprochen: absolute Gegenwart,
vollständige Einheit von Spieler und Instrument.
Das ist es, was wir an Aufgaben lieben, die nur
auf der Ebene von Hochkonzentration zu lösen
sind, ob es die sportliche Leistung bei den Olym-
pischen Spielen oder die Rettung aus einer ganz
schwierigen Situation ist, so wie das viele Filme
thematisieren. Das Thema Macht klingt an: Eine
Situation am Ende doch zu beherrschen, sei es als
Zeichner, dem das Porträt gelingt, als Pianist, der
das gefürchtete Klavierkonzert brillant abzuliefern
diese Doppelseite
Kalligraphie
des Schwert-, Kalligraphie- und
Zenmeisters Yamaoka Tesshu
(1836-1888), Fälschung (links)
und Original (rechts) mit elek-
tronenmikroskopischer Aufnahme
der jeweiligen Tuschverteilung
(Bokki) oben.
aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
Zitiert nach O- meni So- gen und Terayama Katsujo- , »Zen and the Art of Calligraphy – The Essence of Sho- «, Übersetzung aus dem Japanischen John Stevens, London (Penguin Books), 1983, S. 18 f.
1...,16,17,18,19,20,21,22,23,24,25 27,28,29,30,31,32,33,34,35,36,...52
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