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aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
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Es ist eine Kraft notwendig, die von ihrer Anstren-
gung her die Physische eines Hochleistungssport-
lers weit übersteigt. Es ist die geistige Kraft, die
im übertragenen Sinne schon in der Bibel Berge
versetzen kann.
Zeichnung und Konzentration ist ein- und dasselbe.
Es gibt in Asien eine lange Auseinandersetzung,
ob Konzentrationskraft eine Art Motor ist oder
jede Kunstgattung über einen spezifischen Antrieb
verfügt. Ich denke, das erste ist richtig, die Natur
erfindet nur einmal, nutzt es aber überall anders.
Zeichnen als Nachvollzug
und Möglichkeit, die
absolute Gegenwart zu erreichen, ist ein genia-
les Mittel. Es gibt eine enge Verbindung zwischen
Konzentrationskraft und Kreativität: wenn keine
Kreativität da ist, fehlt es einfach an Konzentra-
tionskraft. Große, bisher ungezeichnete Arbeiten
entstehen nur dadurch, amGrund einer gegenwär-
tigen Situation. Technik spielt am letzten Grund
keine Rolle. Das heißt nicht, dass man durch pure
Konzentrationskraft ohne pianistische Erfahrung
eines der großen Werke abliefern kann: Ohne die
entsprechende Übung kann sie in den Feinhei-
ten eines Flügels gar nicht wirken. Das Klavier
muss Situation sein! Das ist der Vorteil der Zeich-
nung: hier ist die Situation des Stiftes so ubiquitär,
dass sich Konzentrationskraft sofort zeigen kann.
Darin liegt ihre Aktualität.
Sie ist dort unmittelbar überprüfbar und kann sehr
schnell auch für einen blutigen Anfänger in einen
recht ansprechenden Bereich vordringen. Sie ver-
mittelt intensiv die Vorhandenheit unserer Sub-
jektivität, unserer Grenzen und Sterblichkeit und
kann als wichtiges Korrektiv aller schnell und bloß
symbolisch gedachten Ideen fungieren.
Ausblick
Sie eröffnet ein Bewusstsein für die Realität des
Übens in unserem menschlichen Leben bis hin zu
der Tatsache, dass wir tatsächlich das sind, was wir
tun, auch im Sinne einer Verantwortung: für die
eigene Körperlichkeit, für die Konsequenzen unseres
Handels und Denkens. Gerade das Denken hinter-
lässt in jeder Zeichnung jenes unbeholfeneWollen,
Thomas Heiber
studierte Musik, Japanologie, Psychologie und
Supervision und arbeitet als freischaffender Künstler, Zei-
chenlehrer, Supervisor und psychologischer Psychotherapeut
in München.
/
das zwischen echter Kunst und Einbildung entscheidet. Wir
sollten die Zeichnung entstauben von vermeintlich kreativem
Ausdrücken, Sonntagsmalerei und netten Zeitverbringungs-
kursen für Menschen, die sich langweilen, aber nichts wirklich
angehen wollen. Die verdecken, statt hin zu einer Fähigkeit zu
führen, die uns die eigene Tiefe erkennen und zu erschließen
vermag. Die die tatsächliche zeitliche Entfernung von uns selbst
und echter Konzentration überwindet und menschliche Ant-
wort ist. Auf letzte Fragen. Die ein klares Unterscheiden von
bloßer Idee und Größenphantasie zur Kunst – Lebenskunst –
erlaubt. Wird dieser Bereich nicht erübt – als die einzigeMög-
lichkeit für Menschen, Tiefe zu erreichen –, so sucht sie sich
fatalen Ersatz, besonders in der Verbindung mit Fundamen-
talismus oder demRisiko. Dort scheint ein Kick geboten, der
endlich die eigene Tiefe erleben lässt. Mit geschickter Mani-
pulation, einer Schein-Orientierung auf eine transzendentale
Zeitperspektive (Zimbardo) gebiert sie Terror, Selbstmordatten-
täter und fundamentalistische Ideen, die endlich (über Macht,
Ebene 4) in diese Tiefe führen sollen, indem sie die Welt dort
hineinreißen. Wir übersehen an Kultur das existenzielle Be-
dürfnis an Selbsterkenntnis bzw. absoluter Gegenwärtigkeit
(Vollendung), ob das als Held oder als Künstler oder nur als
Mensch daherkommt, der schlicht gegenwärtig ist. Das ver-
mehrte Auftreten echter Zeichnung (im Sinne eines Folgens)
heute halte ich daher für eine dringend erforderliche Gegen­
reaktion auf das ›Laissez-faire‹, das in den vergangenen Jahr-
zehnten die Beliebigkeit salonfähig gemacht hat. Ihr großer Vor-
teil ist die Achtsamkeit, die zu übende Verbindung zur Realität
hin, dem Rahmen, in dem wir jenseits von Ideen und abge-
hobenen Ideologien leben: Konzentration hat an der Spitze
der Gegenwart dafür keine Zeit. Demmüssen wir in Bildung
wie Gesellschaft viel mehr Gegenwart geben. So hat zum Bei-
spiel das Handwerk diese Dimension an Meisterschaft in der
Wirtschaftlichkeit völlig verloren. Wir brauchen wieder eine
(Handwerks-)Elite und entsprechende Schulen und Akade-
mien, die darin überhaupt ausbilden und eine Klarheit über
Konzentration und Üben! Es gibt wieder den Wunsch zu
üben, einen Weg zu gehen. Religion (relegere im Sinn von
zurückbinden) meint nichts anderes. Ich hoffe, dass wir als
Gesellschaft verstehen, dass Konzentration das eigentliche
Agens von Kultur undMenschsein ist. Ich hoffe auf eine Epoche
der Künstler, weil diese so nah an die Situation gehen könnten,
dass kreative Lösungen für die enormen anstehenden Prob­
leme aus echter Nähe gefunden werden.
diese Doppelseite
Tuschverteilung 1885 und 1887.
Welch Unterschied in der Dichte der Farbe und in der Bewe-
gung insgesamt. Die Kalligraphien an der Seite sind die dazu-
gehörenden Unterschriften, chronologisch angeordnet. Die
letzte ist unmittelbar vor Tesshus Tod entstanden.
1...,19,20,21,22,23,24,25,26,27,28 30,31,32,33,34,35,36,37,38,39,...52
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