aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 28

aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
|28|
subjektives Tun (Abb. rechts unten, Ebene 5 oder 6, wenn es
genial ist, sprich, wenn Ebene 5 vollständig integriert ist und
das ist ganz selten). In der Zeichnung geschieht dasselbe, nur
verdeckt, denn der Zuschauer ist imMoment der Zeichnung
nicht anwesend. Sie durchläuft wie die Musik einen Prozess
der Aneignung, der Übung, eine zeitliche Veränderung hin
zur absoluten Gegenwart. Wird die erreicht, dann ist’s genial.
Warum? Weil dann in der Zeichnung nichts anderes ist als
die komplette Lebendigkeit, Kraft des Künstlers. Nichts fehlt,
denn sonst wären Teile des Künstlers nicht in dieser Zeit, also
hat da alles zu sich gefunden. Ist jemand unkonzentriert, dann
ist er nicht in der Situation, in der Zeit, die gerade von ihm
verlangt wird, sondern in einer, die er symbolisch vor seinem
geistigen Auge denkt. Zeichnen (Kunst) ist nicht objektive
Darstellung, sondern Mittel, der absoluten Gegenwart ent-
gegen zu üben und sie zu realisieren. Wer einen solchenWeg
als Spur nachvollziehen will, der schaue in die Chapelle du
Rosaire oder blättere chronologisch in einem Werkverzeich-
nis van Goghs. Musik ist da oft viel ehrlicher, das Gehör lässt
sich weniger betrügen. Trotzdem hat die Zeichnung Vorteile:
Sie setzt sich mit der unmittelbar vorhandenen Realität
(des zu Zeichnenden) auseinander, kommt also direkt in der
Gegenwart an. Die Zwischenschritte bis in den Punkt der
absoluten Gegenwart, die Ebenen 2 - 5 der Skizze unterschei-
den sich in ihrer Zusammensetzung zwischen Festgehaltenem
(Objektivem) und Bewegung (Subjektivem, was wir im
Lebensvollzug immer sind). Nichts kann als bloß Gedachtes
(»Hic Rhodos, hic salta«) realisiert werden. Ebene 2 beinhal-
tet die Dinge, die unterhalb des Objektiven liegen, die schon
in Bewegung bringen. Etwas, das objektiv nicht gesagt ist:
Implikationen gehören dazu, Freudsche Versprecher, das
›Unbewusste‹.
Auf der 3. Ebene
liegt das Märchen. Schon der Beginn: »Es
war einmal vor langer Zeit« leitet eine andere Art Spre-
chen ein, bringt Dinge in Bewegung und Möglichkeiten der
Geschichte, die wir objektiv niemals akzeptieren. Auf Ebene
4 liegen die großen Strömungen, Archetypen, Macht und Tod.
Der Tod ist in unserer psychischen Repräsentation die absolute
Bewegungslosigkeit, nicht das Sterben. Der Mächtige bewegt
sich nicht, während ihn der ›Ohn‹-mächtige umschwirrt,
bedient. Seine Bewegungen sind nachgeordnet, in der Frei-
heit eingeschränkt. Der Tod des Pianisten auf der Bühne ist
der Blackout, beim Stierkampf die reale Verletzung, beimElf-
meter die verschossene Chance. Die Macht des Künstlers ist
die der Beherrschung. Es ist keine objektive Macht, wie Amt,
Geld, Position. Die zeitliche Nähe unterscheidet. In die abso-
lute Gegenwart gelangt objektive Macht nie. Sie kann töten,
aber nicht berühren (deswegen existierenMärtyrer
überhaupt als Phänomen). Ebene 5 ist ohne Worte,
denn diese sind immer zu spät, weil sie ein Objekt
brauchen, ein Zeitliches davor, nicht absolut sein
können. Das Absolute ist Bewegung, die ist in der
Sprache imGedicht. Chinesische Beamte der Song-
Zeit wurde nicht etwa nach der Beherrschung der
Gesetze oder Regularien ausgewählt, sondern nach
ihrer Fähigkeit, den Moment in ein allumfassen-
des, sprich absolut gegenwärtiges Gedicht zu fassen.
Die 6. Ebene ist Ausdruck der absoluten Gegen­
wart. Wir finden so etwas in den Koan, in der ganz
großen Kunst. Asien sagt dazu Erleuchtung und
meint einen ganz konkreten Zustand, der sich am
besten in Kunst ausdrücken lässt. Aber überhaupt
nichts Esoterisches: »Leere Weite, nichts Heiliges
drin« (Boddhidharma).
Zeichnung und Konzentration
Nun zur Zeichnung. Zeichnung ist imNachvollzug
einer Bewegung eine ideale Möglichkeit eines sol-
chen Weges. Sie ist wie Musik, hat aber mehr Zeit.
Die Zeichnung eines
Anfängers unterscheiden sich
von der des Meisters in der Menge an Symbolhaf-
tem (=Nicht-Gegenwärtigem). Diese sind kein Aus-
druck der lebendig-gegenwärtigenWahrnehmung
und Bewegung des Zeichnenden, sondern Relikte
aus dessen Vergangenheit, die er statt der Gegen-
wart setzt. Eine Abkürzung, weil die Konzentra­
tion nicht reicht, um anwesend bleiben zu können.
oben
Ebenen der Gegenwart (Thomas Heiber: »Zeit und
Psychotherapie«, unveröffentlichtes Manuskript)
diese Doppelseite
Yamaoka Tesshu, Tuschverteilung von 1872
(links), die Verteilung ist schwach und unkonzentriert.
1880 (rechts) findet sich bereits ein großer Unterschied im
Bokki.
Zitiert nach O- meni So- gen und Terayama Katsujo- , »Zen and the Art of Calligraphy – The Essence of Sho- «, Übersetzung aus dem Japanischen John Stevens, London (Penguin Books), 1983, S. 12, 14, 15, 16, 17.
1...,18,19,20,21,22,23,24,25,26,27 29,30,31,32,33,34,35,36,37,38,...52
Powered by FlippingBook