aviso - Zeitschrift für Wissenschaft und Kunst in Bayern - page 27

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Gegenwart
vermag, oder als Held, dem es am Ende gelingt
zu siegen. Das Gelingen an sich, aber auch dessen
›wie‹ machen die Qualität.
Sogen Omori und Katsyuki Terayama haben in
»The Art of Calligraphy« elektronenmikrosko­
pische Aufnahmen einer solchen Lebendigkeit vor-
gelegt. Wesentlich in der Kalligraphie ist Bokki, die
›Schwarzkraft‹ der Tusche, die anhand der Anord-
nung der Tuschepartikel auf dem Papier sichtbar
wird. Ergänzt wird dies durch einen Vergleich der
Unterschriften eines Künstlers aus verschiedenen
Lebensphasen, in denen sich für den Betrachter die
sich mehr und mehr vertiefende Bewegungsfrei-
heit erkennen lässt. Eine solche Freiheit können
wir ebenso in großen Aufnahmen eines Oistrach,
eines Casals, einer du Pré hören.
Vergleichbar lässt sich
der Grad der Verwirkli-
chung eines Meditierenden messen: ein kleines
Lämpchen auf dem Scheitelpunkt zeichnet alle
Bewegungen des Körpers auf. Je weniger vorhan-
den sind, desto tiefer ist die Einsicht. Das sind ganz
simpel zu erkennende Anzeichen von Konzentra-
tion. Bei der Kalligraphie ist der Pinsel so geführt,
dass keinerlei Abweichung die Tusche-Verteilung
auf dem Papier behindert, bei der Meditation ist
alles aufs bloße Sitzen reduziert, konzentriert.
In der Musik ist die makellos dargebotene Ton­
folge des Notentextes Voraussetzung. Der Rest
ist Ereignis, Lebendigkeit im Musiker, wie in uns
(in uns von der Musik ausgelöst). Konzentration
ist zeitliche Übereinstimmung von Moment zu
Moment und darin Vollendung, weil nichts zurück-
bleibt.
Entscheidend ist der hypothetische, aber in der Aus-
übung vollkommen reale Zeitpunkt einer absoluten
Gegenwart. Realisieren tut sich dieser imKünstler
in demMoment, in dem er einer Form folgt. Form
steht stellvertretend für eine Bewegungsfolge, wie
sie etwa der Notentext, die zu kopierende Zeich-
nung oder aber das chinesische Schriftzeichen vor-
gibt. Auch der Ball, der zumTor finden soll, ist Form.
Die Form erfüllt sich, wenn etwa der Musiker die
zu spielende Musik mit (in) all seiner Lebendig-
keit vorträgt. Wir feiern frenetisch ein solches Tref-
fen, die Leistung, wenn das in einer Lebendigkeit
und inneren Richtigkeit gelingt, die die Ewigkeit
berührt. Das gilt für Zeichnung und Kalligraphie
analog, ist nur schwerer zu erkennen, aus demGe-
schaffenen zu lesen.
Jeder Mensch hat
die Erfahrung, dass es Situatio-
nen gibt, in denen es absolut darauf ankommt, das
Richtige zu tun, sei es für den Kletterer am Fels,
dem Fußballspieler vor demElfmeter oder irgend-
wo im Alltag, wo sich plötzlich eine Situation so
zusammenzieht auf die Gegenwart, dass sie über
Leben und Tod entscheiden wird. Jeder hat das im
Straßenverkehr schon erlebt. Auch der Zeichner ist
dort zu finden, zwar kann er radieren, aber um die
exakte Wiedergabe oder den Ausdruck kommt er
nicht herum. Das muss Gegenwart werden.
Spüren Sie einmal kurz in die enorme Spannung
eines Stierkämpfers, wenn er nah am Stier arbei-
tet, sich in ganz reale Todesgefahr begibt. Die gibt
es auch für den Pianisten, den Fußballspieler, für
den Vorstandsvorsitzenden: vollkommen zu schei-
tern. Diese ›Todesgefahr‹ bezeichnet umgekehrt
eine Nähe, eine zeitliche Nähe. Sie ist beim Stier-
kämpfer wie auch bei all den anderen Künstlern
ganz greifbar, sie ist auf eine Art zeitlich absolut.
Der eine Moment.
In Japan hatte
der Zen einen so enormen Erfolg,
weil er diese Gegenwärtigkeit für den Kampf Mann
gegenMann trainieren konnte. Er war eine militä-
rische Entscheidung und Angelegenheit, auch in
den Zeiten des Shogunats ab 1601, aber dann in
den Künsten verborgen. Extremsportarten leben
davon, katapultieren sie doch den Sportler in Situ-
ationen, die er nur absolut gegenwärtig überleben
kann. Das ist ihr Kick.
Die Ebenen der Konzentration
Der Pianist beginnt das Erarbeiten eines Stücks
mit der Idee, das Stück spielen zu wollen. In die-
sem Moment ist das Stück noch weit entfernt. Es
ist etwas Objektives, ein Symbol, Möglichkeit (Abb.
S. 28, Ebene 1). Ob es bewältigt ist, entscheidet
erst die Aufeinanderfolge von Momenten im Kon-
zertsaal, das ist eine völlig andere Zeitlichkeit zum
Notentext. ImKonzert ist es reine Bewegung, völlig
Zeichnen, Zeit und Konzentration
diese Doppelseite
Im Vergleich
beider Kalligraphien lässt sich
sehr schön der Unterschied in der
Konzentration erkennen.
aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
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