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aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
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Gilles Porte durchquerte 40
Länder und traf dabei über
4000 Kinder, die weder lesen
noch schreiben konnten. Auch
wenn er weder ihre Sprache
kannte noch mit ihrer Kultur
vertraut war, so hatte er
doch niemals Schwierigkeiten,
sie zum freien Zeichnen auf
seine Glasscheibe zu bringen
Schwieriger war es schon,
die Eltern darum zu bitten,
sich nicht einzumischen.
Der Trailer des Films ist auf
youtube zu sehen.
Gilles Porte, aus dem Film »Dessine-toi« (2010) | Professor Dr. Susanne Liebmann-Wurmer
traversé plus de 40 pays pour rencontrer plus de 4000 enfants qui ne savaient ni lire
ni écrire, je dois avouer que cela n’a jamais été très difficile de les faire se dessiner libre-
ment sur ma vitre, même si je ne connaissais pas leur langue, et ignorait tout de leur
culture. C‘était par contre beaucoup plus délicat de demander à des adultes de ne pas
intervenir...«
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Als er das Plakat der fünfjährigen Tomoka ein Jahr nach der Film-
aufnahme an deren Eltern sandte, schrieben ihm diese, dass ihre Tochter aufgrund
der negativen Kritik einer neuen Lehrerin aufgehört habe zu zeichnen, und dass
sie hofften, sie werde nun wieder Mut fassen.
Zeichnen aus dem haptischen Erleben
Alle Kinder beginnen auf gleiche Weise zu zeichnen, erst mit kreisförmigen
Bewegungsspuren, dann mit einfachenMenschendarstellungen, Sonnen, Häusern
– noch sehr bestimmt vom haptischen Welterleben. Eine Studie hat belegt, dass
selbst Blinde auf ganz ähnliche Weise zu zeichnen beginnen. Kinder zeichnen, was
sie wissen, und nicht nur, was sie sehen. Erst später, wenn das Schreiben als neues
Medium hinzugekommen ist, rücken die spezifischen Qualitäten der Mimesis, der
getreuenWiedergabe des Sichtbaren, ins Zentrum. Nun wird angestrebt, die Dinge
möglichst so »abzuzeichnen«, wie sie optisch erscheinen. Diese Art des Zeichnens
ermöglicht einen visuellen Dialog mit demGegenüber, der in seiner Eigenart und
Intensität durch kein anderes Medium erreicht wird.
Männliche Jugendliche lieben Schwarz-Weiß
An der Grenze des Realen beginnt schließlich das Surreale, Fantastische, das in den
Zeichnungen vieler Jugendlicher eine große Rolle spielt. Jugendliche suchen Grenz­
erfahrungen und Spielräume für eigene Erfahrungen, durchleben oft stark emotio-
nale wie nachdenkliche Phasen und auch Krisen, die sie nicht selten auf demWeg
des bildnerischen Gestaltens äußern, reflektieren und verarbeiten. Ein Schüler, der
an unseremForschungsprojekt teilgenommen hat, konnte seine ganze Frustration
über die Schule in einer surrealen Farbstiftzeichnung zum Ausdruck bringen, die
das Erlebnis zugleich auch verwandelte, da ihm im Ergebnis eine ganz besondere,
einzigartige Zeichnung gelang. Auffällig ist die Vorliebe männlicher Jugendlicher
für schwarz-weiße Kompositionen im Vergleich zu anderen Altersgruppen. Die
Farbe stört sie. Im Verlauf der Jugend werden die individuellen Eigenheiten und
Vorlieben immer ausgeprägter.
links
Ausstellungsplakat des
französischen Fotografen und
Filmemachers Gilles Porte – aus
dem Film »Dessine-toi« –
für eine Ausstellung in China.
daneben
Ein jugendlicher
Teilnehmer des Forschungs-
projekts zeichnete eine
schwarz-weiße Bildkomposition
zum Thema »Eine Fremde oder
ein Fremder«.
daneben
Beim Porträtzeichnen
begegnet man einem Menschen
auf eine intensive, nonverbale
Weise. Sehen und Zeichnen
verschmelzen zu einer Einheit, der
Arbeitsprozess scheint sich zu
verselbständigen.
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