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aviso 4 | 2014
Renaissance des zeichnens?
Colloquium
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Professorin Dr. Susanne Liebmann-Wurmer
leitet seit 2008 den Lehr-
stuhl für Kunstpädagogik an der Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg. Von 2010 bis 2014 war sie Projektleiterin des inter-
disziplinären Verbundforschungsprojekts »Zur Bedeutung des
Schreibens und kreativen Gestaltens für die Entwicklung des Menschen«.
Im Zentrum ihrer Forschung und Lehre stehen künstlerisch-ästhetische
Gestaltungsprozesse, Zusammenhänge zwischen künstlerisch-
ästhetischem Handeln und persönlicher Entwicklung sowie interdiszi-
plinäre und interkulturelle Projekte.
»Schaffen, was es nur einmal gibt«
Bei vielen Erwachsenen treten andere Tätigkeiten an die Stelle des
Zeichnens. Bei denjenigen, die es weiterführen, findet sich ein breites
Spektrum an Ausdrucks- und Darstellungsweisen. Auch abstrakte Kom-
positionen nehmen zu. Die Beweggründe können unterschiedlich sein:
Für die einen ist ein gelungenes Ergebnis das Wichtigste, für die ande-
ren der Gestaltungsprozess. Häufig spielt nicht nur die eigene, oft tiefe
Befriedigung imTun eine wesentliche Rolle, sondern auch die Erfahrung
der eigenen Kompetenz sowie die Anerkennung der anderen: »Beim
Malen und Zeichen habe ich das Gefühl, ich bin wertvoll, ich habe
einen Selbstwert, ein angenehmes, sehr schönes Selbstwertgefühl«.
Eine andere Teilnehmerin des Forschungsprojekts betont den Aspekt
der Einzigartigkeit: »Was mich unheimlich fasziniert, ich kann etwas
schaffen, was es nur einmal gibt«. Das »Zu-Sich-Kommen« durch inten-
sive Wahrnehmung und Konzentration bewirkt bei manchen ein tiefes
Erleben von Sinnzusammenhängen: »Malen ist eine Art Meditation: Da
gibt es nur das und mich. Sonst ist alles ausgeschaltet und das ist schön.
Das ist auch Kraft schöpfen, neu auftanken«. In jedem Fall können im
Zeichnen und Malen eigene Ansichten visualisiert, Zusammenhänge
dargestellt und Einsichten gewonnen werden. In jedemAlter kann dies
ein höchst befriedigendes Erlebnis sein. In unserem Forschungsprojekt
hat ein älterer Teilnehmer in einer kolorierten Zeichnung einen Über-
blick über sein ganzes Leben gegeben. Diese Darstellung seiner Biogra-
fie verdeutlicht, dass das Zeichnen in solchem Zusammenhang zwar
keine Tatsachen verändert, sehr wohl aber Sichtweisen formt, die neue
Perspektiven eröffnen und damit neue Tatsachen schaffen können. Das
Zeichnen und die dabei entstehenden Bilder dienen dem Bewusstwer-
den, Bearbeiten und Begreifen, dem Erinnern, Erfinden und der Kom-
munikation sowie – und das nicht zuletzt – dem ästhetischen Genuss!
Mehr als drei Jahre forschten wissenschaftliche Teams
der FAU Erlangen-Nürnberg, der TH Nürnberg und des
Kunst- und Kulturpädagogischen Zentrums der Museen
in Nürnberg (KPZ) gemeinsam über die Kulturtechniken
des bildnerischen Gestaltens und des Schreibens. In
fünf Teilprojekten wurden aus bild- und sprachwissen-
schaftlicher, pädagogischer, soziologischer, psycholo-
gischer und neurologischer Perspektive Fragen zu den
Bedingungen, Erscheinungsformen und Auswirkungen
des bildnerischen Gestaltens und des Schreibens in
unterschiedlichen Lebensphasen untersucht. Im Mai
2014 fand das Verbundforschungsprojekt in einem in-
terdisziplinären Kongress im Germanischen National-
museum in Nürnberg seinen Abschluss. Genauere In-
formationen sowie Abstracts und Aufzeichnungen von
Vorträgen werden auf der Kongress-Website veröffent-
licht:
»Zur Bedeutung des
Schreibens und kreativen
Gestaltens für die
Entwicklung des Menschen«
Interdisziplinäres Verbundforschungs-
projekt, gefördert durch die STAEDTLER-Stiftung
links
Jugendliche verbinden in ihren Bildern häufig Worte
mit Bildern. Die Entäußerung von Gefühlen und Gedanken
in Bild und Schrift kann eine befreiende Wirkung haben.
rechts
Diese biografische Darstellung reflektiert die unter-
schiedlichen Stationen eines Lebens in einer komplexen,
perspektivischen Komposition.
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