Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 255

Synekdoche, Balkan
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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4 Hyun Kang Kim: Slavoj Žižek, Paderborn 2009, S. 7.
Das Holiday Inn in Sarajevo
erlangte während der Belage-
rung größere Bekanntheit.
Foto: Christoph Huber
Gleich vor dem Bahnhof hat ein Metallschild aus dem Jahr
1984 die Jahre überdauert. Vucˇko, das Maskottchen der
Olympischen Winterspiele, heißt darauf die Besucher will-
kommen. Auf der anderen Seite des Bahnhofsplatzes ragt
ein frisch fertiggestellter Wolkenkratzer in denHimmel; der
futuristisch-verdrehte „Avaz Twist Tower“ gehört einem
großenMedienunternehmen in Bosnien-Herzegowina. Wir
nehmen die Straßenbahn – sie war, wie die deutschsprachi-
gen Schilder im Waggon unschwer erkennen lassen, früher
in Wien unterwegs gewesen. Und biegen gleich ein in die
Straße Zmaja od Bosne, besser bekannt als Sniper’s Alley, da
sie während der Belagerung permanent von Heckenschüt-
zen unter Beschuss genommen war. Wir passieren das be-
rühmte Holiday Inn, das während des Kriegs als einziges
Hotel der Stadt geöffnet blieb und Reporter und Mitarbei-
ter internationaler Organisationen beherbergte, und die
Olympiahallen des Skenderija-Komplexes. Die Tram fährt
nun am Fluss Miljacka entlang, gesäumt von den repräsen-
tativen Bauten aus der k. u. k. Epoche: der Universität, der
Kunstakademie, dem Hauptpostamt, dem Nationaltheater.
Nicht weit entfernt stehen die Minarette des Altstadtvier-
tels Bašcˇaršija.
In den Gassen rund um das Opernhaus suchen wir
unsere Pension und werden nicht fündig trotz sorgfältig no-
tierter Adresse und ausgedruckten Stadtplans. Uns läuft ein
Mann mit Vollbart und wirrem Haar entgegen, der uns va-
ge bekannt vorkommt. Er trägt aber vor allem einen Aus-
weis des „Sarajevo Film Festival“ um den Hals und wirkt
sympathisch und ortskundig. Wir fragen, ob er das auf un-
seremZettel notierte Hotel kenne – tut er nicht, doch er stu-
diert den Plan, blickt sich um, geht sogar in einCafé, um sich
zu erkundigen, und führt uns schließlich selbst bis zur Tür.
Tatsächlich schwer zu finden – das Klingelschild an dem
Altbau ist der einzige Hinweis auf die Herberge. Dem hilfs-
bereiten Herrn sollten wir bald wieder begegnen.
Am nächsten Vormittag, so hatten wir dem schnell
beschafften Programmheft des Filmfestivals entnommen,
würde Slavoj Žižek einen Vortrag über Ideologie und Film
halten. Wir stehen im Festivalzentrum nach Eintrittskarten
an. Im vollen Hörsaal betritt der slowenische Starphilo-
soph, Psychoanalytiker, Marxist, Filmkenner, Professor in
Ljubljana und London, kurz: einer der „bedeutendsten und
innovativsten Denker der Gegenwart“,
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das Podium – wie
sich herausstellt, war er es gewesen, der uns am Vorabend
ins Hotel geleitet hatte.
Die Stadt, so kann man sagen, empfängt uns herz-
lich, und sie macht dem Besucher das Entdecken leicht. Sa-
rajevo ist offen und abwechslungsreich, die Mischung aus
orientalischer und k. u. k. Architektur in einem ansonsten
modernen europäischen Stadtbild mit Bergen rundherum
einzigartig. Zudem findet man schnell Anschluss. Wir mer-
ken bald, dass man mit Deutsch gut zurechtkommt, oft bes-
ser als mit Englisch. „Ach, aus München seid ihr“, sagt die
junge Frau an der Hotelrezeption beim Check-in, „hab
auch ein paar Jahre in München gewohnt, beim Olympia-
park.“ In den kommenden Tagen sprechen uns immer wie-
der Menschen an, die uns deutsch reden hören, und erzäh-
len, dass sie die Kriegsjahre in München, Augsburg oder
Wien verbracht haben. An einem Abend sitzen wir vor ei-
nem Altstadtlokal und bearbeiten unsere Cˇ evapcˇic©i mit
Messer und Gabel, bis der ältere Herr am Nachbartisch
nicht mehr zusehen kann und eingreift: „Essen Sie ruhig mit
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