Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 259

Synekdoche, Balkan
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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10 So definiert der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien die Belagerung: “
[…] a strategy that used sniping and shelling
to kill, maim, wound and terrorize the civilian inhabitants of Sarajevo. The sniping and shelling killed and wounded thousands of civilians of
both sexes and all ages, including children and the elderly.”
[Stand: 16. November 2013].
11 36 hours in Sarajevo, Bosnia and Herzegovina, New York Times vom 09.11.2013.
[Stand: 16. November 2013].
12
[Stand: 16. November 2013].
13 Die Vereinten Nationen haben einen ausführlichen Bericht über die Belagerung Sarajevos veröffentlicht:
pert/ANX/VI-01.htm [Stand: 16. November 2013].
14 Zur Geschichte des „Sarajevo Film Festival“ vgl. die offizielle Internetseite:
[Stand: 16. November 2013].
Plätze, Kirchtürme, Minarette und Hochhäuser sensatio-
nell. Für die Belagerer bot sich die Möglichkeit, Sarajevo
von April 1992 bis Januar 1996 täglich unter Beschuss zu
nehmen. Das Überqueren einer Straße war mit der perma-
nenten Gefahr verbunden, ins Visier von Heckenschützen
zu geraten. Die Belagerer machten keine Unterschiede in
der Wahl ihrer Ziele. Getötet wurden Menschen jeden Al-
ters, Zivilisten wie Soldaten. Granaten schlugen in Woh-
nungen ein und in öffentlichen Gebäude, in Krankenhäuser,
auf Märkte und Schulen.
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Wenn man vom Stadtzentrum aus auf die Hügel
rundherum schaut, braucht man nur wenig Fantasie, um
sich vorzustellen, wo die Stellungen der serbischen Armee
lagen. Viel schwieriger ist die Vorstellung, eine belagerte
Stadt in dieser Lage über fast vier Jahre lang am Leben zu
halten. Die Menschen in Sarajevo waren in ihrer Stadt buch-
stäblich eingesperrt. Jeder Schritt vor die Tür war lebensge-
fährlich. Dennoch schafften es die Belagerten, ihr Leben zu
organisieren: Wasser und Lebensmittel zu beschaffen, die
Kinder zu unterrichten und ein kulturelles Leben auf die
Beine zu stellen. Sogar Theater wurde gespielt, und ein
Filmfestival gegründet.
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Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien hatten vie-
le Ursachen, alle beteiligten Parteien haben Unrecht began-
gen, und Schuld ist immer individuell, niemals kollektiv.
Das sind auch die Prinzipien des Internationalen Strafge-
richtshofs in Den Haag.
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Wenn man Sarajevo besucht, ist
man nicht zum Urteil verpflichtet, aber man kann auch
nicht gleichgültig bleiben. Wie, fragt man sich, konnte es
sein, dass eine große Stadt mitten in Europa jahrelang sys-
tematisch zerstört wurde? Dabei war die Situation Saraje-
vos im Krieg einigermaßen paradox. Das Waffenembargo,
das die Vereinten Nationen über Bosnien verhängt hatten,
galt für alle Kriegsparteien, aber es hat den Krieg nicht ver-
hindert, und die Belagerer konnten es viel einfacher umge-
hen als die Belagerten. Zugleich war der Flughafen, der am
westlichen Ausgang des Tals von Sarajevo liegt, ab Juli 1992
eine UN-Schutzzone, und Blauhelme waren während der
gesamten Belagerung in der Stadt präsent, durften aber nicht
eingreifen. Über eine Luftbrücke versorgte die internatio-
nale Gemeinschaft die Bewohner der Stadt, deren letzter
verbliebener Ausweg aus dem Belagerungsring über das
Flughafengelände geführt hätte. Die tatsächlich einzige
Möglichkeit, Sarajevo zu verlassen, wurde ein 1993 gegra-
bener Tunnel, der unter dem Flughafen hindurch in unbe-
setztes Territorium führte. Die Schutztruppen der Verein-
ten Nationen, die in Sarajevo stationiert waren, konnten ge-
gen die Belagerung wenig ausrichten – diese fand erst ein
Ende, als die NATO 1995 militärisch eingriff. Das Massa-
ker von Srebrenica war ein Ereignis, das dafür den Aus-
schlag gab, der wiederholte Granatenbeschuss des Markale-
Marktes in Sarajevo ein anderes. In der
Operation Delib-
erate Force
bombardierten NATO-Verbände ab 30. August
1995 Stellungen der serbischen Armee; am 21. September
wurde ein Waffenstillstand geschlossen, am 14. Dezember
der Friedensvertrag von Dayton. Die Belagerung Sarajevos
wurde am 29. Februar 1996 für offiziell beendet erklärt.
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Wie tief dieWunden reichen, die diese traumatische
kollektive Erfahrung hinterlassen hat, kannman in einer gu-
ten Woche nicht ermessen. Auch nicht, wie das Verhältnis
zwischen einer äußerlich zum größten Teil wiederherge-
stellten Stadt und den täglichen Bedürfnissen ihrer Bewoh-
ner beschaffen ist, die nach wie vor in einem der ärmsten
Länder Europas leben. Aber an unseren Sommerabenden
2008 ist Sarajevo eine Stadt, die durchweg gute Laune
macht. Von den Bergen weht ein frischer Wind, die Straßen
sind voll. Die Menschen flanieren auf der Ferhadija, der
Prachtstraße aus der k. u. k Zeit, oder in der Altstadt rund
um den Sebilj-Brunnen und die Gazi-Huzrev-Beg-Mo-
schee. Hier riecht es überall nach frisch gegrillten Cˇ e-
vapcˇic±i, in den Bars und Cafés trinkt man bosnischen Kaf-
fee aus Kupferkännchen oder das lokale Sarajevsko-Bier.
Die vielen Souvenirgeschäfte in den Gassen des Basars deu-
ten darauf hin, dass Sarajevo wieder auf der touristischen
Landkarte präsent ist. Das beliebteste Motiv in den T-Shirt-
Geschäften ist natürlich Wölfchen Vucˇko, das Olympia-
Maskottchen.
Das Filmfestival sorgt zusätzlich für eine lebhafte,
internationale Atmosphäre. Von früh bis spät laufen an ver-
schiedenen Orten in der Stadt Filme, es gibt Diskussions-
veranstaltungen, einen roten Teppich vor dem Opernhaus
und jeden Abend Partys. Das „Sarajevo Film Festival“ fand
zum ersten Mal 1995 statt, noch während der Belagerung.
Heute ist das Festival das wichtigste in Südosteuropa und
zieht auch internationale Stars an; Daniel Craig, Angelina
Jolie oder Mickey Rourke waren schon zu Gast.
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Bei unse-
rem Besuch 2008 können wir Kevin Spacey Zigaretten rau-
chend vor demFestivalcafé antreffen, Charlie Kaufman, den
209...,249,250,251,252,253,254,255,256,257,258 260,261,262,263,264,265,266,267,268,269,...284
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