Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 261

Synekdoche, Balkan
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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15 Zum politischen System siehe Clewing (wie Anm. 5), S. 745 f. und S. 768 f.
16 Calic (wie Anm. 9), S. 329.
17 Brüssels Schatten auf dem Balkan, Süddeutsche Zeitung vom 01.10.2013, S. 8.
„Welcome to BGD“ – am Bahnhof Novi Beograd, dem größten Neubauviertel von Belgrad
Foto: Alexander Wulffius
wechselt alle acht Monate. Daneben gibt es noch zehn Kan-
tone, ebenfalls mit eigenen Kompetenzen. Staatsgewalt übt
schließlich auch der Hohe Repräsentant für Bosnien und
Herzegowina aus, der von den Vereinten Nationen einge-
setzt wird.
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Diese Struktur ist das Ergebnis des Vertrags von
Dayton. Auf der einen Seite hat Dayton das Land befriedet,
auf der anderen Seite sorgt das politische System für einen
schwachen Gesamtstaat, eine ausufernde Bürokratie, ein
Dickicht aus Kompetenzen und eine weitgehende Segrega-
tion des öffentlichen Lebens nach ethnischen Gesichts-
punkten. Bosnien-Herzegowina ist „das gebrochene Herz
Jugoslawiens“, das sich „nicht wieder kitten“ ließ.
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Durch
den politischen Stillstand verliert Bosnien viel Boden ge-
genüber seinen Nachbarstaaten. Seit dem Beitritt Kroatiens
zur Europäischen Union am 1. Juli 2013 liegt Bosnien an ei-
ner EU-Außengrenze, worauf das Land schlecht vorberei-
tet war.
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ImGegensatz zu Serbien undMontenegro ist Bos-
nien kein offizieller Beitrittskandidat zu EU, und ohne er-
hebliche Reformen des politischen Systems wird es wohl auf
absehbare Zeit bei einer diffusen Beitrittsperspektive blei-
ben.
Sarajevo, so sagen wir uns, ist ein besonderer Ort
in Europa, und er gehört zu Europa. Weit weg ist Sarajevo
nicht, nur die Bahngleise sind zu alt: Für unsere Heimfahrt
brauchen wir fast 24 Stunden. Der Nachtzug Zagreb-Mün-
chen ist noch unbequemer als der Bummelzug durch Bos-
nien, beim Morgenkaffee am Münchner Hauptbahnhof
steht aber fest: Das machen wir wieder. Beim nächsten Mal
geht es nach Belgrad.
Belgrad 2012
Gerade nach einem sonnigen Tag in Ljubljana, den wir in
den Cafés in der schmucken Altstadt und mit Spaziergän-
gen amUfer der Ljubljanica verbracht haben, ist die Anfahrt
auf Belgrad erst einmal ein Schock. Vom Zug aus sehen wir
Bilder, wie sie uns in Europa noch nicht begegnet sind: Well-
blechbaracken inmitten großer Mülldeponien, zerlumpte
Menschen jeden Alters, die buchstäblich im Müll leben. Im
Mai 2012 ist die Debatte über „Armutsmigration“ nach
Deutschland zwar noch nicht in Fahrt gekommen; Berich-
te über die Lebenssituation zahlreicher Roma in Südosteu-
ropa sind uns jedoch freilich bekannt. Wenn man mit eige-
nen Augen diese Verhältnisse sieht, dann wird einem doch
sehr deutlich, dass hier ein gesellschaftliches Problem liegt,
dessen Tragweite nach der Zuwendung nicht nur der loka-
len Politik verlangt.
Die lokale Politik begrüßt uns dann gleich nach un-
serer Ankunft. Unsere Terminfindung hat uns zufälliger-
weise in den letzten Tagen vor den parallel stattfindenden
Präsidentschafts- und Parlamentswahlen nach Belgrad ge-
bracht, und so ruckeln wir unsere Rollkoffer während der
Abschlusskundgebung der nationalistischen Serbischen Ra-
dikalen Partei (SRS/CPC) über den zentralen Platz der Re-
publik. Jedes dritteWort der Rede, die per Lautsprecher den
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