Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 253

Synekdoche, Balkan
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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Eine negative Wahrnehmung der Region fußt zu einem gro-
ßen Teil auf dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens in den
1990er-Jahren, dem gewalttätigsten Kapitel einer an Re-
gimewechseln und Umbrüchen nicht armen Zeit. Auf dem
Gebiet des ehemaligen Jugoslawien gibt es heute sieben un-
abhängige Staaten, die ganz unterschiedliche Wege gehen.
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An dieser Region kann man gut sehen, welche Richtungen
ein Land einschlagen kann, wenn erst ein System – in die-
sem Fall der Kommunismus – zusammenbricht, dann ein
föderaler Staat. Und es lohnt, sich mit dieser Region zu be-
schäftigen, die alles hat, was Europa im Guten wie im
Schlechten ausmacht.
Welche Eindrücke und Vorstellungen vermittelt die
Region demheutigen Besucher? Unser Beitrag wirft Schlag-
lichter auf Geschichte undGegenwart, inspiriert durch zwei
Reisen: nach Sarajevo anlässlich des Filmfestivals im Jahr
2008 und nach Belgrad kurz vor den Wahlen im Jahr 2012.
„Synecdoche, New York“ – so lautete der Titel eines Films,
der im Wettbewerb des „Sarajevo Film Festival“ gezeigt
wurde. Er erzählt vom vergeblichen Versuch eines Theater-
regisseurs, seine Stadt als Theaterkulisse in einer riesigen
Halle nachzubauen: eine gescheiterte Synekdoche, ein Teil,
der das Ganze nicht widerzuspiegeln vermag. Bruchstücke,
Stimmungen, Bilder vomBalkan – das will der folgende Bei-
trag vermitteln.
Sarajevo 2008
Am Bahnhof Zagreb versammelt sich an einem Morgen im
August 2008 eine recht übersichtliche Gruppe von Reisen-
den mit Ziel Sarajevo auf dem Perron. Die Waggons waren
offensichtlich von Bahngesellschaften anderer Länder aus-
gemustert worden, und so steigen wir in einen rot-hellgel-
ben Wagen der Deutschen Bundesbahn und richten uns ein
für die kommenden zehn Stunden. Die Fahrzeit steht dabei
in keinem Verhältnis zur zurückgelegten Distanz. Von Za-
greb nach Sarajevo sind es etwa 400 Kilometer, aber der Zug
ist häufig mit kaum mehr als Schrittgeschwindigkeit unter-
wegs. Zudem müssen dreimal die Lokomotiven getauscht
werden: Bis zur Grenze zieht die kroatische Bahn, dann die
der Republika Srspka, schließlich die Staatsbahn der Föde-
ration Bosnien-Herzegowina. In diesem Land sind die Din-
ge eben manchmal etwas komplizierter. Dafür ist es eine
richtig schöne Bahnfahrt. Bosnien ist sehr grün, sehr bergig,
wir zuckeln durch Flusstäler, vorbei an Dörfern und Bau-
ernhäusern, Moscheen, orthodoxen und katholischen Kir-
chen – oft zur gleichen Zeit aus dem Bahnfenster zu sehen.
Die Dauergäste bis Sarajevo verbringen viel Zeit auf dem
Gang am offenen Zugfenster, man lernt sich kennen. Wir
sprechen mit dem Filmkritiker des Londoner „Guardian“,
der sich zum wiederholten Male für die beschwerliche
1 Vgl. Edgar Hösch: Geschichte des Balkans, München 2011, S. 7 f.
2 Alle früheren Teilrepubliken Jugoslawiens sind heute eigene Staaten: Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und
Mazedonien. Kosovo war keine Teilrepublik, ist aber faktisch ein unabhängiger Staat, auch wenn er international nicht vollständig aner-
kannt und kein Mitglied der Vereinten Nationen ist.
Der Balkan steht in der mitteleuropäischen Vorstellung häufig für „das Andere“ in
Europa – das „Pulverfass“, eine archaische Welt, der instabile Ordnung und politische
Gewalt gleichsam eingeschrieben sind. So wundert nicht, dass der Begriff – in der Zeit
des Osmanischen Reichs aus dem Türkischen entlehnt – von der Mehrheit der südost-
europäischen Bevölkerung abgelehnt wird.
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