Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 248

Der Schweizer Maurice Bavaud versuchte mehrmals, ein Atten-
tat auf Adolf Hitler auszuführen. Er wurde am 19. Dezember
1939 vom Volksgerichtshof in Berlin zum Tode verurteilt und am
14. Mai 1941 hingerichtet.
Foto: SZ-Photo – S. M.
Maurice-Bavaud-Platz geschaffen werden solle, um dem
verhinderten Attentäter ein ehrendes Andenken zu bewah-
ren.
Dieser Vorstoß evozierte teils heftige Reaktionen,
die in einer Leserbriefdiskussion zwischen dem empörten
Filmregisseur Rolf Lyssy und Peter Spinatsch, einem Mit-
glied des Comité Maurice Bavaud, kulminierten und die
Standpunkte des Streites zwischen Urner und Meienberg/
Hochhuth noch einmal stellvertretend darlegten. Denn
während Klaus Urner in seinem 1980 erschienenen Buch
Der Schweizer Hitler-Attentäter
Maurice Bavaud patholo-
gisierte und für einen antisemitischen, rechtsradikalen so-
wie restlos fremdgesteuerten Handlanger eines allgewalti-
gen Mitverschwörers hielt
1
und diese These 1998 in der
Neuen Zürcher Zeitung noch einmal bestätigte,
2
vertraten
und vertreten Meienberg (
Es ist kalt in Brandenburg
, 1980)
und Hochhuth (
Tell 38
, 1979) den völlig konträren Stand-
punkt, es habe sich bei Bavaud um einen klarsichtigen, cha-
rakterfesten, vor allem aber opferbereiten jungen Mann ge-
handelt, der mit seiner versuchten Tat lediglich seiner christ-
lich-pazifistischen Grundüberzeugung gefolgt sei.
Analog hierzu bewerten beide Parteien auch jene
entscheidenden Aussagen, die – laut der erhalten gebliebe-
nen Urteilsschrift – von Maurice Bavaud während seiner
Verhandlung vor dem Volksgerichtshof in Berlin getroffen
worden sind: Er habe die Persönlichkeit des „Führers“ und
Reichskanzlers für eine Gefahr für die Menschheit gehalten,
vor allem auch für die Schweiz, deren Unabhängigkeit
Hitler bedrohe. Vor allem aber seien kirchliche Gründe für
seine Tat bestimmend gewesen; denn in Deutschland wür-
den die katholische Kirche und die katholischen Organisa-
tionen unterdrückt und er habe daher geglaubt, mit seiner
geplanten Tat der Menschheit und der gesamten Christen-
heit einen Dienst zu erweisen.
Niklaus Meienberg und Rolf Hochhuth schätzen
diese Äußerungen als vollkommen authentisch ein und se-
hen sie als passgenaue Quintessenz der von ihnen vertrete-
nen Thesen,
3
während Klaus Urner die gesamte Urteils-
schrift für ein Machwerk der Gestapo hält, mittels dessen
diese für Maurice Bavaud ein sicheres Todesurteil erwirken
wollte.
Unabhängig von diesen beiden extrem divergieren-
den Positionen ist zunächst einmal festzuhalten, dass beide
Seiten massiven Aufwand betrieben haben, um über Zeit-
zeugenbefragungen, Akteneinsichten undwissenschaftliche
Gutachten an detaillierte biografische Daten von Maurice
„Ich sterbe im Schoße der Kirche“
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Bavauds Werdegang zu gelangen, die eine nähere Bestim-
mung seiner wesentlichen Charakterzüge ermöglichen soll-
ten.
Dank der Verbissenheit, mit der die Kontroverse
schon damals geführt wurde, konnte ein beachtlicher Fun-
dus an interessanten Aspekten und Begebenheiten zutage
gefördert werden, der je nach Sichtweise interpretiert wur-
de. Es ist dabei zu konstatieren, dass die christlich-religiös
akzentuierte Meienberg-Interpretation – obwohl nicht ein-
mal völlig ausgereizt – deutlich mehr Substanz aufweist als
Urners Darstellung. Diese beinhaltet schon in diesem Früh-
stadium einige Lücken und stellt so seine gesamte darauf
folgende Argumentation auf tönerne Füße – auch und vor
allem, da er Zeugenaussagen von teils engsten Familienan-
gehörigen mitunter völlig unbeachtet lässt, obwohl oder ge-
rade weil sie seine These vom extremistischen Wahnsinni-
gen äußerst scharf konterkarieren.
Denn festzuhalten ist – und hierbei muss sogar
noch über die von Meienberg vertretene Position hinausge-
gangenwerden –, dassMaurice Bavaud als Erstgeborener ei-
ner achtköpfigen und wirtschaftlich bisweilen arg kämp-
fenden Neuenburger Familie bereits von frühester Kindheit
1 Klaus Urner: Der Schweizer Hitler-Attentäter. 3 Studien zum Widerstand und seinen Grenzbereichen: Systemgebundener Widerstand.
Einzeltäter und ihr Umfeld. Maurice Bavaud und Marcel Gerbohay, Frauenfeld 1980.
2 Klaus Urner: Ein Schweizer Held oder zwei Opfer der Nazijustiz? Zum Gedenken an Maurice Bavaud und Marcel Gerbohay, in: Neue
Zürcher Zeitung vom 07./08.11.1998.
3 Niklaus Meienberg: Es ist kalt in Brandenburg. Ein Hitler-Attentat, Berlin 1990 sowie Rolf Hochhuth: Tell 38. Dankrede für den Basler
Kunstpreis 1976 am 2. Dezember in der Aula des Alten Museums, Reinbek bei Hamburg 1977.
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