Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 240

Tschechische Bevölkerung aus
den grenznahen Gebieten
wartet nach der Annexion des
Sudetenlandes auf eine Trans-
portmöglichkeit in das Lan-
desinnere.
Foto: ullstein bild
heit ein, die bis zum Jahre 1989 andauerte, und nicht nur die
sog. Zweite Republik der Jahre 1938-1939 und die darauf-
folgende nationalsozialistische Besatzung bis 1945. Das,
was diese in vieler Hinsicht unterschiedlichen Perioden der
tschechischen Zeitgeschichte miteinander verbindet, sind
weniger übereinstimmende Systemelemente, sondern viel-
mehr das moralische Denk- und Handlungsmuster der
tschechischen Gesellschaft. So verstand etwa Václav Havel
manches, was er an der tschechischen Geschichte der zwei-
ten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu monieren hatte, als indi-
rekte Folge Münchens: das „vorsichtige Verhalten“ des
Großteils der tschechischen Gesellschaft während der NS-
Besatzungszeit, das „manchmal mehr als fragwürdige[s]
Vorgehen“ der Tschechen nach Kriegsende, die weitgehend
widerstandslose Hinnahme der kommunistischen Totalität
und schließlich auch die Tatsache, dass „wir so lange bereit
waren, den Kommunismus zu dulden.“
2
Seit München wür-
den die Tschechen nicht mehr in den Kategorien „richtig –
unrichtig“ oder „sittlich – unsittlich“ denken, sondern bloß
„vorteilhaft – unvorteilhaft“, schildert einer der angesehe-
nen tschechischen Historiker die Dimension des morali-
schen Verfalls.
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AußerdemwarMünchen jahrelang ein offenes Pro-
blem der tschechoslowakischen Außenpolitik. Diese ver-
folgte bereits in der Kriegszeit das ehrgeizige Ziel, etwas
politisch und rechtlich ungeschehen zu machen, was in der
2 Projev prezidenta republiky Václava Havla k 55. výrocˇí mnichovského diktátu 29.09.1938 (Rede des Präsidenten der Republik, Václav Ha-
vel, zum 55. Jahrestag , 29.09.1938. In:
(Stand: 24.10.2013).
3 Jirˇí Pernes: Mnichov je stále aktuální (München ist immer noch aktuell), in: Jindrˇich Dejmek - Marek Loužek (Hg.): Mnichov 1938:
sedmdesát let poté (München 1938 – siebzig Jahre danach), Prag 2008, S. 91–93, hier S. 93.
Nach München. Das lange Nachleben eines Abkommens
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Tat geschehen ist: Die Anerkennung der Nichtigkeit des
Münchner Abkommens auf internationaler Ebene von An-
fang an. Dieses Ziel ließ sich während des Krieges nicht voll-
ständig erreichen. Prag versteifte sich auf diese Forderung
auch in der Nachkriegszeit, wo ihr immer weniger reale Be-
deutung zukam und wo sie eher dazu geeignet war, außen-
politische Flexibilität und Handlungsspielräume einzuen-
gen. Wie auch immer, es entstand ein Phänomen, das in den
Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei bzw. Tsche-
chiens und der Bundesrepublik für lange Zeit typisch wer-
den sollte: Nicht aktuelle Fragen, sondern Probleme der
Vergangenheit waren die Hauptstreitpunkte. So war Mün-
chen der Hemmschuh bei den Verhandlungen über die Ein-
richtung von Handelsvertretungen in den 1960ern sowie
über die Herstellung diplomatischer Beziehungen zu Be-
ginn der 1970er-Jahre. Es spielte, um der weiteren Ent-
wicklung vorzugreifen, auch in den Gesprächen über den
tschechoslowakisch-deutschen Nachbarschaftsvertrag in
den frühen 1990ern eine zentrale Rolle. Und die unheilvol-
le Vergangenheit komplizierte, diesmal in Gewand der Be-
neš-Dekrete, auch die Beitrittsverhandlungen Tschechiens
zur Europäischen Union zu Beginn des neuen Jahrtausends.
Anfang der 1970er-Jahre bewirkte München, dass
Prag bei der Kontaktaufnahme mit der Bundesrepublik das
Schlusslicht im Ostblock war. Die für die Außenwelt kaum
nachvollziehbare Prinzipienreiterei erweckte damals Un-
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