Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 241

Nach München. Das lange Nachleben eines Abkommens
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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4 Bohuslav Kucˇera: Je Mnichov už jen minulostí? (Ist München bereits nur Vergangenheit?), in: Rudé právo vom 29.09.1988.
5 „Mnichovská dohoda“ – hypotéka, která musí být konecˇneˇ splacena („Münchner Abkommen“ - Hypothek, die endlich zurückgezahlt
werden muss), in: Haló noviny vom 04.09.1998.
Unterzeichnung des Prager
Vertrags im Czernin-Palast
durch Bundeskanzler Willy
Brandt und Ministerpräsi-
dent Lubomir Štrougal,
12. Dezember 1973
Foto: ullstein bild - BPA
mut auch bei den Verbündeten, die das Scheitern der Nor-
malisierung der Beziehungen zur Bundesrepublik befürch-
teten. Und so war es auch ein gewisser Druck aus Moskau,
der die Prager Staats- und Parteiführung zur Annahme ei-
ner Kompromissformel bewegte, die schließlich in den sog.
Prager Vertrag
zwischen der Tschechoslowakei und der
Bundesrepublik von 1973 Eingang gefunden hat. Obwohl
das kommunistische Regime diesen Vertrag zum „endgülti-
gen Schlusspunkt hinter der Münchner Katastrophe“ in
rechtlicher Hinsicht erklärte,
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setzte Prag nach der Wende
von 1989 die Frage der Gültigkeit des Münchner Abkom-
mens abermals auf die Tagesordnung. Nur Frankreich und
Italien bekräftigten vertraglich ihre längst bekannten Stand-
punkte hinsichtlich der Nichtigkeit des Münchner Abkom-
mens von Anfang an, allerdings eher widerstrebend und
merklich überrascht, welche Fragen denn die Tschecho-
slowakei trotz des Regime- und Systemwechsels für wich-
tig hielt. Großbritannien und die Bundesrepublik ließen
sich jedoch zur Änderung ihrer Rechtsstandpunkte nach
wie vor nicht bewegen. International blieb somit der Erfolg
so gut wie aus, innenpolitisch gab man mit dem ergebnislo-
sen Aufrollen dieser Frage lediglich Nationalisten aller
Couleur ein willkommenes Mobilisierungsinstrument an
die Hand. So forderte eine, von den tschechischen und
deutschen Kommunisten anlässlich des 60. Jahrestages des
Münchner Abkommens im Jahre 1998 initiierte, Petition die
Bundesregierung auf, das Abkommen endlich verbindlich
als völkerrechtswidrig und deswegen von Anfang an ungül-
tig zu begreifen.
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Lesarten
Schließlich fand München als häufig verwendete Metapher
oder Chiffre in das politische Vokabular Tschechiens Ein-
gang. Selbst zwanzig Jahre nach der Wende von 1989 hatte
diese Metapher hier immer noch eine prominente Stellung
inne. Die langjährige und intensive politische Funktionali-
sierung von München spielte zweifellos eine sehr wichtige
Rolle dafür, dass dieses Ereignis im kollektiven Gedächtnis
der Tschechen so fest verankert ist. Deswegen ist es sicher
angebracht, diesen Punkt näher auszuführen.
Von den mittlerweile sieben verflossenen runden
Jahrestagen des Münchner Abkommens fallen fünf in die
Phase des Kalten Krieges, zweien wurde danach gedacht. Zu
jedem runden Jahrestag ließ das kommunistische Regime ei-
ne offizielle Stellungnahme eines hochrangigen politischen
Funktionärs veröffentlichen. Von dieser Praxis gab es zwei
bemerkenswerte Ausnahmen: Mit der gemeinsamen Erklä-
rung der Regierungen der Tschechoslowakei und der DDR
von 1958 erreichte das Andenken anMünchen den höchsten
politischen Rang. Dagegen schwieg zwanzig Jahre später
die Politik und vertraute die offizielle Stellungnahme einem
regimetreuen Zeithistoriker an. Man kann daran die Funk-
tionalisierung dieses Jahrestages in den Beziehungen vor al-
lem zur Bundesrepublik ablesen: einerseits die zunehmen-
209...,231,232,233,234,235,236,237,238,239,240 242,243,244,245,246,247,248,249,250,251,...284
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