Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 247

„Ich sterbe im Schoße der Kirche“
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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Maurice Bavaud reiste – ohne nähere Mitteilung über Ziel
und Zweck der Reise an die Angehörigen – am 9. Oktober,
einem Sonntag, mit dem Zug von Neuenburg aus über Ba-
sel nach Baden-Baden, um sich dort bei Verwandten in ei-
nem für ihn fremden Land zu akklimatisieren und Hitlers
Aufenthaltsort zu eruieren. Am 20. Oktober fuhr er kurz
zurück nach Basel, erstand dort in derWaffenhandlung Bür-
gin eine 6,5-mm-Schmeisserpistole sowie dazugehörige
Munition und nahm dann den Zug nach Berlin, wo er am
folgenden Tage ankam. Bavaud war nach wie vor fest ent-
schlossen, ein Attentat auf Hitler zu verüben, las dann je-
doch in einem Zeitungsbericht, dass sich „der Führer“ nicht
in Berlin, sondern in Berchtesgaden aufhalte, und reiste
daher am 24. Oktober mit dem Zug nach Bayern, wo er er-
ste Schießübungen mit seiner Pistole machte und vergeblich
versuchte, auf den „Berghof“ zu gelangen, bis ihn ein ein-
heimischer Französischlehrer darauf hinwies, dass er den
Diktator vielleicht am ehesten am 9. November bei dessen
Gedenkmarsch zur Münchner Feldherrnhalle zu Gesicht
bekommen könne.
Dank seines intelligenten und gewinnenden Auf-
tretens gelang es Bavaud, sich einen Platz in der ersten
Reihe auf der Ehrentribüne gegenüber der Heilig-Geist-
Kirche zu beschaffen, wo er sich am 9. November rechtzei-
tig einfand, um sein Vorhaben ins Werk zu setzen. Aller-
dings marschierte Hitler in der Mitte des Zuges und war von
daher zu weit entfernt und zudem teilweise durch die hun-
dertfach zum Hitlergruß erhobenen Arme verdeckt, die
einen gezielten Schuss endgültig unmöglich machten – ein
zweireihiges SA-Spalier verstellte darüber hinaus den frei-
en Zugang zur Straße, sodass Bavaud sein Vorhaben vorerst
ruhen lassen musste.
Wie richtig der grundsätzliche Gedanke eines At-
tentats auf Hitler jedoch war, zeigte sich dem Schweizer nur
wenige Stunden nach seinem ersten Anschlagsversuch, als
auch in München der Terrorakt der Reichspogromnacht
über die Stadt hereinbrach. Maurice Bavaud wurde dadurch
in seiner Auffassung bestärkt, den Hauptverantwortlichen
für diese Verbrechen beseitigen zu müssen, weshalb er es in
den folgenden drei Tagen sowohl in München im „Braunen
Haus“ als auch erneut in Berchtesgaden sowie in Bischofs-
wiesen versuchte, nahe genug an Hitler heranzukommen,
um ihn zu erschießen. Letztlich blieb er jedoch erfolglos.
Bavaud wurde am Abend des 12. Oktober wegen einer feh-
lenden Zugfahrkarte am Bahnhof in Augsburg festgenom-
men und als Ausländer der Gestapo überstellt. Dies bedeu-
tete sein Todesurteil, weil er der sogenannten „verschärften
Vernehmung“ nicht gewachsen war und seine Absichten
schlussendlich zugeben musste.
Bavauds versuchter Anschlag und vor allen Dingen
aber die Frage nach der diesem zugrunde liegenden Motiv-
lage hatten schon vor gut 30 Jahren zu einer erbittert ausge-
tragenen Kontroverse zwischen dem Zürcher Geschichts-
wissenschaftler Klaus Urner einerseits sowie dem St. Galler
Journalisten und Historiker Niklaus Meienberg und dem
deutschen Schriftsteller Rolf Hochhuth auf der anderen Sei-
te geführt – ein Disput, der in der Schweiz bis heute fort-
wirkt. Ganz aktuell betrifft dieser auch die Stadt Zürich, die
aufgrund eines Postulats vonGemeinderat SimonKälin dar-
über zu befinden habe, ob nicht an prominenter Lage ein
Maurice Bavaud stammte aus Neuenburg/Neuchâtel am Neuenburger See in der fran-
zösischsprachigen Westschweiz, wo er am 16. Januar 1916 als Ältester in einer Familie
mit sechs Kindern geboren wurde. Nach einer Berufslehre als technischer Zeichner
studierte er ab 1935 drei Jahre an einem Seminar der Kongregation vom Heiligen Geist
in St. Ilan in der Bretagne, um Priester und Missionar zu werden, bevor er sich im
Herbst 1938 zu einem Attentatsversuch auf Adolf Hitler entschloss.
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