Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 239

Nach München. Das lange Nachleben eines Abkommens
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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Die Faszination
Münchens
(der Stadtname wird hier, wie
insbesondere im Tschechischen üblich, als Kurzbezeich-
nung für den historischen Vorgang der Herbstmonate des
Jahres 1938 gebraucht, der in der Besetzung der tschecho-
slowakischen Grenzgebiete durch NS-Deutschland gipfel-
te) liegt in erster Linie in dem Ereignis selbst. München ist
an und für sich eine spannende Geschichte, die fast alles hat:
Hoffnung, Entschlossenheit und Enttäuschung, Ehrlichkeit
und Heuchelei, Helden und Schwächlinge – nur schöne
Frauen und die Liebe sind unterrepräsentiert, aber auch so
gibt München eine gute Story ab. Hinzu kommt, dass die
damalige Entwicklung als nicht unbedingt unvermeidlich
erscheint, ja, es herrscht sogar der Eindruck vor, dass 1938
nicht viel fehlte, und die Geschichte hätte einen anderen
Lauf genommen. Der Raum für alternative Szenarien ist
denkbar groß, was natürlich die Phantasie auf Trab bringt.
Was wäre denn passiert, wenn die Westmächte Hitlers Vor-
schläge abgelehnt hätten? Hätte Hitler sich doch für den
Krieg entschieden, und wie wäre dieser Krieg ausgegangen?
Wäre Hitler doch noch vor der Entfesselung seines Infernos
besiegt oder vielleicht durch die innere Opposition gestürzt
worden? Wäre die UdSSR der Tschechoslowakei auch oh-
ne die Westmächte zu Hilfe gekommen? Und wie wäre ein
isolierter Konflikt zwischen Deutschland und der Tsche-
choslowakei verlaufen? Insbesondere die Frage, ob die
Tschechoslowakei damals, eventuell auch ohne Bündnishil-
fe, hätte kämpfen sollen, ist bis heute die in der tschechi-
schen Öffentlichkeit am meisten und besonders kontrovers
diskutierte Frage der tschechischen Zeitgeschichte. Durch-
aus verständlicherweise, wennman sich das ungeheure Aus-
maß an Enttäuschung über die kampflose Kapitulation beim
Großteil der damaligen tschechischen Öffentlichkeit in Er-
innerung ruft. Außerdem hat sich diese Enttäuschung ge-
wissermaßen vergegenständlicht, denn in Gestalt der tsche-
choslowakischen Grenzbefestigungen, die eben gegen Hit-
ler erbaut wurden und die mittlerweile von
militärgeschichtlichen Klubs sowie privaten Einzelperso-
nen sorgfältig gepflegt und vielerorts in Museen umgewan-
delt werden, verfügt sie über einen multiplen Erinnerungs-
ort, den man auf Reisen und Wanderungen insbesondere
durch die böhmisch-mährischen Grenzgebiete kaum mei-
den kann.
München war für die Tschechen zwar ein Desaster,
doch standen sie für eine kurze Zeit im Mittelpunkt des
Weltgeschehens. Niemals mehr wartete die Außenwelt so
gebannt auf eine Entscheidung aus Prag. Kein zweites Mal
gestalteten die Tschechen das Schicksal Europas und der
Welt so unmittelbar mit. Aber auch der Zäsurcharakter und
die langfristigen Folgen des Abkommens für die tschechi-
sche Gesellschaft sorgen dafür, dass das Interesse an Mün-
chen jahrelang nicht an Intensität verloren hat. Für viele
Tschechen leitete München eine lange Periode der Unfrei-
1 Zdeneˇk Beneš: Mnichov v cˇeskoslovenských a cˇeských ucˇebnicích deˇjepisu (München in den tschechoslowakischen und tschechischen Ge-
schichtslehrbüchern), in: Jan Neˇmecˇek (Hg.): Mnichovská dohoda. Cesta k destrukci demokracie v Evropeˇ (Das Münchener Abkommen.
Der Weg zur Destruktion der Demokratie in Europa), Prag 2004, S. 281–293, hier S. 281.
Die Fachöffentlichkeit war sich, zumindest noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts, weit-
gehend einig: Das Münchner Abkommen vom 29. September 1938 „als einer der
zentralen Orte des tschechischen historischen Gedächtnisses nimmt nach wie vor eine
hervorragende Stelle im tschechischen öffentlichen historischen Diskurs ein.“
1
So
selbstverständlich diese lakonische Feststellung auch klingen mag, ist man der Frage,
warum das eigentlich so war und gegebenfalls immer noch ist, bisher kaum nachgegan-
gen. Diese Lücke versucht der vorliegende Beitrag, der anlässlich des kurz zurück-
liegenden 75. Jahrestages des Münchner Abkommens verfasst wurde, zumindest an-
satzweise zu schließen.
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