Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 222

Plakat zur Erinnerung an den ungarischen Volksaufstand des
Jahres 1956
Abbildung: Bundesarchiv – Kölnische Verlagsdruckerei GmbH
Mitteln gegen das eigene Volk zu sichern. Er berichtete wei-
ter, er habe die sowjetischen Genossen sehr drastisch vor
den Konsequenzen ihrer Geschichtsrevision gewarnt:
„Wenn man einemKarnickel auf den Kopf schlägt, ist es tot;
wenn das einem Bären widerfährt, geschieht nichts. Wir
aber sind die Karnickel.“
Nach seiner Auffassung entwickele sich ein Rie-
sendruck in Richtung auf eine Destabilisierung der soziali-
stischen Länder. Deshalb habe er „die sowjetischen Genos-
sen auch gefragt, ob sie sich bewusst seien, dass die Angrif-
fe gegen Stalin letztlich – wie 1968 in der ˇCSSR – auf die
Partei zielen, mit ihnen soll die Legitimität der Partei der
Bolschewiki in Zweifel gezogen werden“.
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Der Gast aus Prag verdeutlichte, Kern der sowjeti-
schen Debatte um die Geschichte der KPdSU sei die
schmerzhafte Frage: War Stalins Terror Ausdruck seines
despotischen Machtmissbrauchs oder lagen seine Wurzeln
in Ideologie und Struktur der bolschewistischen Herrschaft
68 Ebd., Bl. 3.
69 König (wie Anm. 4), S. 307.
70 György Dalos: Der Vorhang geht auf, München 2009, S. 82.
Abgrenzung: die SED und Gorbatschows Geschichtspolitik
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begründet? Mit demReformziel ‚Demokratisierung des po-
litischen Systems’ hatte Gorbatschow indirekt die Antwort
bereits gegeben.
Die ungarische Partei erwies sich nach der Ablö-
sung von Janos Kadar im Mai 1988 „als derjenige Partner
der Sowjetunion, dessen ideologische Auffassungen und
politische Strategie mit dem Reformkurs Gorbatschows am
weitesten übereinstimmten“.
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Die ungarische Partei hatte
wie die KPdSU eine historische Kommission gebildet, um
die Ereignisse des Jahres 1956 zu untersuchen, Vorsitzender
wurde das Politbüromitglied Imre Pozsgay. Ende Januar
1989 gab Pozsgay die Ergebnisse der Untersuchung der his-
torischen Kommission im Rundfunk bekannt: „Die von
ihm geleitete Historikerkommission betrachte das, was im
Jahre 1956 geschah, aufgrund der aktuellen Forschung als
Volksaufstand, als Aufstand gegen eine Oligarchie und die
Nation demütigende Herrschaftsform. Sensationell an die-
ser Formulierung wirkte allerdings der daraus zwingende
Rückschluss, was das im Oktober 1956 Geschehene nicht
gewesen sein konnte – jene ‚Konterrevolution‘, deren Nie-
derschlagung zur Rechtfertigung von 32 Jahren ungebro-
chener Diktatur, inklusive des gnadenlosen Terrors ihrer er-
sten Jahre, gedient hatte.“
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Die Konsequenz waren die Re-
habilitierung von ImreNagy und die Frage: Wer war Kadar?
Die Angehörigen der Hingerichteten verlangten eine wür-
devolle Beerdigung. Sie fand am 16. Juni 1989 in Budapest
imRahmen eines Staatsaktes statt, an dem sich 150 000Men-
schen beteiligten.
Implizit wurde damit die Niederschlagung des
Aufstandes durch die sowjetische Armee nun zur Anwen-
dung imperialer Gewalt gegen die Souveränität des ungari-
schen Volkes.
Ein Jahr später, im Dezember 1989, detonierte
dann die gewichtigste „Zeitzündermine“, die die Existenz
der Sowjetunion selbst bedrohen sollte. Die baltischen De-
legierten des zweiten Kongresses der Volksdeputierten setz-
ten die Annullierung des Geheimen Zusatzprotokolls zum
deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August
1939 auf die Tagesordnung. Der Vertrag gab Hitler freie
Hand zum Krieg gegen Polen und zu dessen Zerschlagung.
Das Deutsche Reich und die Sowjetunion waren sich schon
im Zusatzprotokoll des Vertrages einig über die Teilung Po-
lens, und beide Staaten legten die Grenzen der Einfluss-
sphären des Deutschen Reiches und der Sowjetunion in
Osteuropa fest; das Baltikum lag in der sowjetischen Inter-
essensphären, die drei baltischen Staaten wurden von der
Sowjetunion 1940 annektiert. Das Geheime Zusatzproto-
koll war gewissermaßen die Geburtsurkunde des 1939 ent-
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