Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 216

drei Jahren in den Beziehungen zur KPdSUund in ihrer Ab-
grenzungspolitik zur sowjetischen Geschichtsdiskussion.
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In der politischen Wirklichkeit der Sowjetunion
ging es 1987 bereits um den Erhalt des Imperiums und vor
allem um die Zukunft der Sowjetunion selbst. Die Ausein-
andersetzung um die Geschichte wurde zu einem Motor in
der Differenzierung der kommunistischen Parteien der ein-
zelnen sozialistischen Staaten und in den Nationalitäten-
konflikten in der Sowjetunion selbst. Moskau unterschied
schon 1987 zwei Gruppen von Parteien im Imperium, eine,
die sie unterstützte, und die andere, die sich von ihr ab-
grenzte: „Zur ersten Gruppe zählte man Polen, Ungarn,
Bulgarien und die Mongolei und zur zweiten die DDR, die
Tschechoslowakei, Rumänien, Vietnam, Kuba und Chi-
na.“
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Der 70. Jahrestag der Oktoberrevolution,
die Neubewertung der Geschichte der
KPdSU und die Reaktion der SED
Gorbatschow zog in der Festansprache zum 70. Jahrestag
der Oktoberrevolution eine kritische Bilanz des Weges der
sowjetischen Kommunisten an der Macht. Die Rede spie-
gelte auch die widersprüchlichen Einstellungen zur Partei-
geschichte wider, die sich im Politbüro der KPdSU heraus-
gebildet hatten, ihre Botschaft war somit ambivalent.
Einerseits „eine Sternstunde der Menschheit, […] die eine
neue Epoche des gesellschaftlichen Fortschritts eingeleitet
hätte“. Andererseits habe es in der „sowjetischen Geschich-
te neben Heroischem auch Tragisches, neben großen Siegen
auch bittere Rückschläge gegeben“.
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Der historische Rück-
blick lieferte Gorbatschow die Begründung für die Not-
wendigkeit der Politik der Perestroika. „Zwei Schlüssel-
probleme der gesellschaftlichen Entwicklung bestimmen
das Schicksal der Umgestaltung. Das sind die Demokrati-
sierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens und radika-
le Wirtschaftsreformen.“ Die Demokratisierung hob er als
„das Herzstück der Umgestaltung“
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besonders hervor. Aus
der Perspektive der Demokratisierung waren die Politik
Stalins und das historische Urteil über sie der neuralgische
Punkt; waren sie doch neben demZweitenWeltkrieg für das
Volk der schmerzlichste Abschnitt der Parteiherrschaft. Die
21 Vgl. Schlusswort von Erich Honecker auf der 3. ZK-Tagung der SED am 20./21. November 1986, SAPMO-BA, DY 30/IV/2/1,660, Bl. 238.
22 König (wie Anm. 4), S. 131.
23 Ebd., S. 175.
24 Gorbatschow: Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution (wie Anm. 20), S. 54.
25 Ebd., S. 36.
26 Ebd., S. 37.
27 Ebd., S. 38.
28 König (wie Anm. 4), S. 175.
29 Hermann Weber: „Weiße Flecken“ in der Geschichte Die KPD-Opfer der stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung, Frankfurt am
Main 1989, S. 7.
Abgrenzung: die SED und Gorbatschows Geschichtspolitik
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Bewertung der stalinistischen Periode war der Prüfstein, ob
die historischeWahrheit über Stalins Verbrechen zugelassen
würde.
Gorbatschow fand klare Worte. „Es gab – ich sage
es offen – regelrechte Verbrechen durch Machtmissbrauch.
Massenrepressalien waren Tausende und aber Tausende von
Parteimitgliedern und Parteilosen ausgesetzt. Das, Genos-
sen, ist eine bittereWahrheit. Der Sache des Sozialismus und
dem Ansehen der Partei wurde ernster Schaden zugefügt.
Und das müssen wir offen aussprechen.“
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Die „Schuld Sta-
lins und seiner engsten Vertrauten, die gegenüber Partei und
Volk für Massenrepressalien und Willkür verantwortlich
sind, ist groß und untilgbar. Das ist eine Lehre für alle Ge-
nerationen.“
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Er bezog sich explizit auf den XX. Parteitag
der KPdSU 1956 und kritisierte, dass die Rehabilitierung
„der Opfer der Repression nicht zu Ende geführt und Mit-
te der sechziger Jahre praktisch eingestellt“ wurde. „Heute
müssen wir uns auf Beschluss des Oktoberplenums des ZK
wieder damit befassen.“ Zu diesem Zweck habe das Polit-
büro eine Kommission „zur allseitigen Untersuchung neu-
er und schon früher bekannter Fakten und Dokumente zu
diesen Fragen gebildet“. Auf der Grundlage ihrer Ergebnis-
se sollten „entsprechende Entscheidungen getroffen wer-
den“.
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Die Leitung der Kommission übernahm der für
ideologische Fragen zuständige ZK-Sekretär Alexander Ja-
kowlew. Der DDR-Botschafter lernte in diesen Debatten
um die sowjetische Geschichte vor allem den „Zweifel am
Wahrheitsgehalt vieler Publikationen“.
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Die Rehabilitierung der Opfer des Terrors über-
schritt nach 1987 in der Sowjetunion Chruschtschows
Grenze von 1956; sie schloss nun auch die in Schauprozes-
sen verurteilten „Parteifeinde“ ein. Der Oberste Gerichts-
hof der UdSSR hob z.B. 20 der 21 Todesurteile im Prozess
gegen Bucharin u.a. von 1938 „wegen Nichtbestehens einer
Straftat“.
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auf. Die SED machte keine Anstalten, um die im
sowjetischen Exil ermordeten deutschen Kommunisten zu
rehabilitieren. Die Initiative für diesen Schritt kam aus der
Bundesrepublik. Im April 1988 verfassten die westdeut-
schen Historiker Hermann Weber, Peter von Oertzen und
der russische Schriftsteller im deutschen Exil, Lew Kope-
lew, einen Brief an den sowjetischen Botschafter in der Bun-
desrepublik Deutschland: Sie forderten, auch die deutschen
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