Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 213

Abgrenzung: die SED und Gorbatschows Geschichtspolitik
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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Gegensätzliche Lehren aus der Parteige-
schichte in Moskau und Ost-Berlin
Michail S. Gorbatschowbegründete dieNotwendigkeit von
Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion mit dem Pos-
tulat der Wahrheit über Gegenwart und Vergangenheit des
Landes. Erich Honecker dagegen sah in der kritischen Neu-
bewertung der sowjetischen Geschichte, namentlich der
Stalin-Periode, eine Gefahr für das Machtmonopol der
kommunistischen Partei. Entsprechend dieser Wahrneh-
mung berichtete der DDR-Botschafter seinem Generalse-
kretär im Juni 1989 über den Verfall der Autorität der
KPdSU in der sowjetischen Gesellschaft. Die zukünftige
„Schlüsselfrage“ war nach seiner Einschätzung, ob es der
Partei gelinge, ihre „Führungsrolle unter den sich verän-
dernden Bedingungen zu sichern“.
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Die Partei wird „für die
Fehler der Vergangenheit und mehr und mehr für die
Schwierigkeiten und Mängel der Gegenwart verantwortlich
gemacht. Daran hat die in den letzten Jahren geführte Ne-
gativdiskussion über die Rolle der KPdSU und ihrer füh-
renden Funktionäre in der 70-jährigen Geschichte der So-
wjetunion eine gewisse Rolle gespielt“.
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Rückblickend hat
König keinen Zweifel an der „entscheidenden Rolle“, die
die sowjetische Geschichtsdiskussion auch für den Unter-
gang der SED-Herrschaft gespielt hat. Durch sie „wurden
die Identitäten der SED in doppelter Weise untergraben.
Diese Linie der KPdSU stellte einerseits den Wert des von
Stalin geprägten gesellschaftlichen Systems und der ihm im-
manenten Leitungsmechanismen als sozialistische Errun-
genschaften ernsthaft infrage und untergrub andererseits
den historischen Unfehlbarkeitsanspruch der SED“.
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Honecker versuchte, seine DDR von der sowjeti-
schen Geschichtsdiskussion um Stalin, seine Verbrechen
und von der Rehabilitierung der Opfer abzugrenzen. Die
Debatte um die Parteigeschichte war für die SED-Spitze
kein akademischer Disput um die historische Wahrheit.
Diese Geschichte diente der Legitimation ihres totalitären
Machtanspruchs und damit ging es in ihrem Selbstver-
ständnis um die Existenz der DDR. Deren Gründung ver-
dankten die deutschen Kommunisten nach 1945 dem Sie-
gerwillen der von Stalin geführten Sowjetunion. Das Glück-
wunschtelegramm Stalins zur Gründung der DDR
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wurde
ohne Nennung seines Namens von Honecker noch 1988 zi-
tiert: „Als die Deutsche Demokratische Republik am 7. Ok-
tober 1949 ins Leben trat, bedeutete dies einenWendepunkt
in der Geschichte des deutschen Volkes und Europas.“
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1987 begannen Künstler und Schriftsteller in der Sowjet-
union die Geschichte ihres Landes aus einer anderen Per-
spektive als der der kommunistischen Parteigeschichte zu
beschreiben: Sie brachten das Leid der Opfer des Terrors
und seine Geschichte zur Sprache – und die Parteiführung
duldete diesen Pluralismus. So veröffentlichte die „Prawda“
im Februar 1987 eine Besprechung des Films „Sühne“
[Reue] des georgischen Regisseurs Abuladse. Nach Ansicht
der SED-Zensoren wurde in dem Film „die Lage der So-
1 Dieser Essay entstand im Rahmen des Projektes: „Das Ende einer Epoche. Der Kreml und Osteuropa 1989/91“ des Ludwig-Boltzmann-In-
stituts für Kriegsfolgen-Forschung, der Cold War Studies der Harvard University, der Russischen Akademie für Wissenschaften und dem
Staatsarchiv für Zeitgeschichte (RGANI).
2 Gerd König: Bericht an den Generalsekretär des ZK der SED, Moskau, 21. Juni 1989, Honecker nahm den Bericht am 23. Juni zur Kennt-
nis, SAPMO-BA, DY 30/11.358, Bl. 80
3 Ebd.
4 Gerd König: Fiasko eines Bruderbundes, Berlin 2012, S. 198.
5 „Die Bildung der friedlichen Deutschen Demokratischen Republik ist ein Wendepunkt in der Geschichte Europas.“ Zitiert nach: Hermann
Weber (Hg.): Dokumente zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik 1945–1985, München 1986, S. 163.
6 Erich Honecker: Zum Geleit, in: Zum 70. Jahrestag der Gründung der KPD, Einheit Heft 11/12 1988, Berlin (Ost) 1988, S. 964.
Der Regisseur Tengis Abuladse bei der Premiere seines Films
„Reue“ in Moskau im Februar 1987
Foto: ullstein bild - Nowosti
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