Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 221

Abgrenzung: die SED und Gorbatschows Geschichtspolitik
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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63 Ebd., S. 76.
64 Wolfgang Herger u.a.: Zu Ursachen für die Krise in der SED und in der Gesellschaft, in: Lothar Hornbogen/Detlef Nakath/ Gerd-Rüdiger
Stephan: Außerordentlicher Parteitag der SED/PD Protokoll der Beratungen am 8./9. und 16./17. Dezember 1989 in Berlin, Berlin 1999,
S. 386.
65 Referat Erich Honeckers auf der Beratung mit den ersten Sekretären der Kreisleitungen am 12. Februar 1988, zitiert nach: Thesen (wie
Anm. 36), S. 6.
66 Neben Honecker selbst waren das Willi Stoph (Ministerpräsident), Kurt Hager (ZK-Sekretär für Kultur und Wissenschaft), Erich Mielke
(Minister für Staatssicherheit) und Hermann Axen (ZK-Sekretär für internationale Angelegenheiten).
67 SAPMO-BA,DY 30/2439,: Vermerk über ein Gespräch des Ersten Sekretärs des ZK der SED, Erich Honecker, mit dem Mitglied des Präsi-
diums und Sekretär des ZK der
KP ˇC
, Vasil Bilak, im Haus des ZK, 24.11.1988, Bl. 5.
lektiv steht, das von dem aus der ThälmannschenGarde her-
vorgegangenen und in vielen Klassenkämpfen gestählten
und erfahrenen Genossen Erich Honecker geleitet wird.“
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Das war der eigentliche Kontrapunkt zu Gorba-
tschows Reformpolitik: die Behauptung des Machtmono-
pols des SED-Parteiapparates mit diesem Generalsekretär
an der Spitze. Im Herbst 1989 wussten das auch Funktio-
näre aus demZK-Apparat der SED: „Es handelt sich um die
stalinistische Deformation des Sozialismus. Sie ist politisch
vor allem durch die unkontrollierte, autarke Herrschaft der
führenden Partei gekennzeichnet, durch die Lösung der
Partei von ihrem eigentlichen Ziel, dem Volk zu dienen. Die
führende Rolle der Partei wurde zum Machtanspruch, zur
Diktatur über die Gesellschaft, ausgeübt von ihren Spitzen-
funktionären.“
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Vor den Kreissekretären seiner Partei legte Hone-
cker seine Motivation dieser Geschichtspolitik auch offen;
die Taten von gestern sollten Ansporn sein für das Handeln
der Partei heute: „In der Geschichte unserer Thälmann-
schen Partei finden wir lebendige Vorbilder von Heldenta-
ten standhafter kommunistischer Revolutionäre. Ihr Mut
und ihre Opferbereitschaft, ihr Wille und ihre feste Ver-
bundenheit mit der KPdSU und dem Lande Lenins sowie
mit den anderen Bruderparteien legten den Grundstein für
den Sozialismus in unserem Land.“
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Die Selbstbezeichnung der SED als „Thälmann-
sche Partei“ hatte nur für eine schmale Alterskohorte unter
den SED-Mitgliedern noch biografische Bedeutung. Aller-
dings war der Anteil derjenigen, die vor 1933 in die KPD
eingetreten waren, unter den Mitgliedern des SED-Politbü-
ros hoch und sie besetzten Schlüsselpositionen in der Par-
teiführung.
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Für die Lebenswirklichkeit und die tagtäglichen
Probleme der SED-Kreissekretäre von 1988 hatte diese Be-
schwörung einer opfer- und ruhmvollen Vergangenheit we-
nig Bedeutung. Alltäglich waren sie mit der Organisation
des Mangels in der Versorgung der Bevölkerung beschäftigt
und gequält von der Frage: Wie soll es weitergehen in unse-
rer DDR? Auf ihre bohrende Frage: Wie erklärt uns die
Führung endlich die Ursachen für die ökonomische Krise
und den Zerfall unserer Städte, vor allem, welchen kon-
struktiven Ausweg zeigt sie uns - darauf gab ihnen Hone-
cker keine Antwort.
Der innerparteiliche Sinn seiner Formel für die Beschwö-
rung der heldenhaften Vergangenheit wurde schon verstan-
den; es ging um Honeckers eigenen Machtanspruch. Sein
Ziel war es, die Kreissekretäre zu mobilisieren, die unge-
teilte Macht der SED über die DDR zu verteidigen. Schließ-
lich waren sie Funktionäre der Partei, die die DDR ge-
schaffen hatte. In Ungarn war es die Frage der ungarischen
Revolution von 1956, die 1988 ihre Sprengkraft entfaltete.
Das Tabu der SED-Parteigeschichte, die Gründung ihres
Staates durch Stalins Sowjetunion, wurde in den beiden
deutschen Staaten nicht öffentlich diskutiert. Vielleicht
konnte Honecker deshalb glauben, seine historische Mauer
schütze die SED und ihren Staat schon vor Debatten über
Veränderungen, die sich in den Nachbarstaaten vollzogen.
Die Thesen verschwanden mit Honeckers Sturz
spurlos aus dem öffentlichen Gedächtnis.
Die Gegenwart der Parteigeschichte und
das Ende der kommunistischen Diktaturen
Die Eigenverantwortung der nationalen Parteien für ihre
Politik bedeutete auch, dass die „weißen Flecken“ ihrer
Herrschaftsgeschichte nun in den einzelnen Ländern zum
aktuellen politischen Thema innerhalb und außerhalb der
regierenden kommunistischen Parteien wurden. Vasil Bilak,
Mitglied des Präsidiums der KP ˇCwarnte Honecker vor den
Konsequenzen der sowjetischen Geschichtsdebatten für die
eigene Macht im November 1988. Der Mitunterzeichner
des „Hilferufs“ tschechoslowakischer Spitzenfunktionäre
der KP ˇC vom August 1968 hatte den Einmarsch der sowje-
tischen Truppen in die ˇCSSR legitimiert, ummithilfe der so-
wjetischen Armee die Reformkommunisten in Prag zu stür-
zen. Bilak war bestürzt, wie gegenwärtig die Geschichte des
Prager Frühlings in der sowjetischen Reformdebatte war. Er
berichtete, „einige sowjetische Vertreter forderten, die Er-
eignisse von 1968 um zu bewerten. [sic] Der Erste Sekretär
der KP Estlands habe intern mitgeteilt, auch Genosse Gor-
batschow habe geäußert, dass diese Ereignisse neu bewertet
werden müssen, aber die tschechoslowakischen Genossen
seien dazu nicht bereit.“
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Der Slowake hatte das Gefühl,
sein „Hinterland“ zu verlieren, mit anderen Worten, er
konnte nicht mehr sicher sein, dass die KPdSU noch einmal
bereit wäre, das Machtmonopol der KP ˇC mit militärischen
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