Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 214

wjetunion zur sogenannten ‚Stalinzeit‘ faktisch mit dem Fa-
schismus gleichgesetzt“.
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Die Aufführung des Films wurde
in der DDR verboten. Aus Sicht des SED-Apparates waren
Vergleich oder gar – aus der Perspektive der Opfer – die
Gleichsetzung des Terrors der Nationalsozialisten mit dem
Stalins und der Bolschewisten nicht nur unzulässig, sondern
im Sinne des politischen Strafrechts der DDR „antisowjeti-
sche Hetze.“ Das Poem „Das Recht auf Erinnerung“ von
Alexander Twardowski ließ bei den Funktionären, die ihn
zitierten, vielleicht eine Ahnung von der gesellschaftlichen
Brisanz dieser tabuisierten Wahrheit aufkommen:
„Die Kinder sind längst zu Vätern geworden, aber
für den gemeinsamen Vater sind wir alle verantwortlich
[…]. Das Gericht über ihn dauert Jahrzehnte, und ein Ende
ist nicht abzusehen. [...] Manche wollen alles schweigend in
Vergessenheit geraten lassen, die Verwandten und Freunde,
ihren Kreuzgang vergessen. […] Aber es war doch echte
Realität, diese Menschen wurden zu Lagerstaub. […] Man-
che befehlen, manche bitten zu vergessen, um die, die nicht
dabei waren, nicht zu verwirren. Es gibt aber keine, die nicht
betroffen waren. Alle wissen alles. […] Manche glauben,
daß mit dem Sonderparteitag (gemeint ist offenbar der XX.)
das Gedächtnis ausgelöscht wurde. Und Ihr, die Ihr heute
versucht, die früheren Zustände wiederherzustellen, – ruft
lieber Stalin an, er war ja ein Gott – zum Unterschied von
Lenin –, und er könnte auferstehen.“
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Das Poem entstand 1966/69, der letzte Satz bezieht
sich auf die Amtszeit von Leonid I. Breschnew, der den
Kurs der Entstalinisierung und der Rehabilitierungen been-
dete. Twardowskis Anklage betraf nicht nur die russische
Gesellschaft, seine Zeilen wurden auch in der Ukraine, im
Kaukasus, in Polen, im Baltikum, in Ungarn und in der
Tschechoslowakei verstanden. Die imperiale Politik Stalins
und seine terroristische Herrschaft im eigenen Land hatten
historische „Zeitzünderminen“(Alexander Jakowlew) hin-
terlassen, die in der sowjetischen Geschichtsdebatte gezün-
det wurden. Die Parteifunktionäre der SED in ihrer einge-
schränkten Wahrnehmung der politisch-ideologischen Be-
deutung dieses Tabubruchs im „Bruderland“ vermuteten,
7 Einige Anmerkungen zu Aussagen des Januar-Plenums des ZK der KPdSU [1987] und im Vergleich mit Grundsatzpositionen im Pro-
gramm unserer Partei sowie in den Beschlüssen des XI. Parteitages der SED, SAPMO-BArch DY 30/IV. 2/2. 039/282, Bl. 136.
8 Ebd., Bl. 136–137.
9 Ebd., Bl. 146.
10 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) Kurzer Lehrgang, gebilligt vom ZK der KPdSU (B) 1938, Berlin
(Ost) 1949. Bis 1956 war es das zentrale Lehrbuch für die kommunistische Weltbewegung. Auf dem Gründungsparteitag der SED 1946 lag
es bereits auf dem Büchertisch des Parteitages. 1948 beschloss die SED-Führung, dass der „Kurze Lehrgang“ obligatorische Grundlage der
Parteischulung werde. Hermann Weber berichtet sehr anschaulich, wie 1948 die Interpretation des „Kurzen Lehrgangs“ über die Moskauer
„Schädlingsprozesse“ 1936–1938 an der Parteihochschule der SED vorgetragen wurde. Vgl. Hermann Weber: Damals, als ich Wunderlich
hieß, Berlin 2002, S. 198–200.
11 Vgl. Jan Skala (Pauer): Der XX. Parteitag und die Neufassung der Geschichte der KPdSU, in: Reinhard Crusius/Manfred Wilke (Hg.): Ent-
solidarisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt am Main 1977, S. 360-394.
12 Kurt Hager: Gedächtnisprotokoll über das Gespräch mit Genossen Jakowlew am 17.3.1988 in Ulan Bator, SAPMO-BArch, DY 30/IV
2/2039/281, Bl. 164.
13 Ebd., Bl. 167–168.
Abgrenzung: die SED und Gorbatschows Geschichtspolitik
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dass in der UdSSR „möglicherweise eine neue Geschichte
der KPdSU […] vorbereitet wird“.
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Die Prämisse des Ur-
teils in Ost-Berlin war das Selbstverständnis der SED, die
kommunistische Partei verfüge über die Deutungshoheit
über die eigene Geschichte. Ihre Vertreter waren also irri-
tiert, dass Gorbatschow eine solche gesellschaftliche Debat-
te über die sowjetische Geschichte überhaupt zuließ.
Schließlich war kommunistische Parteigeschichte nicht pri-
mär die Angelegenheit von Historikern, sondern ihre Fest-
legung, ihre Faktenselektion, Nennung und Bewertung hi-
storischer Akteure war seit Stalins berühmt-berüchtigtem
„Kurzem Lehrgang“ von 1938
10
eine ideologische Haupt-
aufgabe kommunistischer Parteiführungen.
11
In der Wahr-
nehmung von Honecker war das Aufgeben der Deutungs-
hoheit über die Geschichte, als Teil des ideologischenWahr-
heitsmonopols der Partei, gleichbedeutend mit dem Auf-
geben ihrer „führenden Rolle.“ Folgerichtig intervenierte
die SED, als russische Historiker begannen, die Parteige-
schichte der KPD auf der Basis von Dokumenten aus dem
bislang geschlossenen Archiv der Kommunistischen Inter-
nationale (Komintern) zu publizieren. Kurt Hager, ZK-Se-
kretär für ideologische Fragen wurde Ende 1987 vom SED-
Politbüro beauftragt, mit Jakowlew die „Fragen der Ge-
schichte (im Zusammenhang mit Veröffentlichungen über
die Komintern)“
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zu klären. Gegenüber Jakowlew bestand
Hager vor Veröffentlichung solcher Artikel auf Abstim-
mungmit der „jeweiligen Partei“, über die geschriebenwur-
de. Es war die unverhohlene Forderung nach Zensur, „weil
unsere Partei nicht zulassen kann, daß z.B. in irgendeiner
Weise das Bild der Parteivorsitzenden der KPD Ernst Thäl-
mann und Wilhelm Pieck in Zweifel gezogen wird“. Hager
verlangte die Überführung der Materialien über die KPD
aus dem Archiv der Komintern in das Institut für Marxis-
mus-Leninismus der SED und die Öffnung des Komintern-
Archivs für die eigenen Parteihistoriker. Jakowlew ver-
sprach die Prüfung der Bitten und versicherte ihm: „Natür-
lich müssten wir davon ausgehen, dass es Sachen gibt, die
sicherlich nie gedruckt werden können.“
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Das war das ent-
scheidende Motiv, das die SED trieb, die Entstalinisierung
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