Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 224

der kommunistischen Partei. Die Schaffung einer parla-
mentarischen Präsidialverfassung durch den Kongress der
Volksdeputierten imMärz 1990 wurde verbunden mit einer
Novellierung der Verfassung, die das Machtmonopol der
KPdSU aufhob und die Neugründung von Parteien zuließ.
Konflikte um die Parteigeschichte – das
Sputnik-Verbot und die 70-Jahr-Feier der
KPD
Im Gespräch mit Wadim Medwedjew forderte Honecker
am 28. August 1988 den sowjetischen Respekt vor dem Ge-
schichtsbild der SED und verlangte eine Vorzensur sowje-
tischer Autoren in Moskau. Artikel zur Parteigeschichte,
78 Aktennotiz über ein Gespräch Erich Honeckers mit Wadim Medwedjew, ZK-Sekretär der KPdSU [Leiter der ideologischen Kommission],
24. 8. 1988, SAPMO-BArch DY 30/IV 2/1 685, Bl. 114.
79 König (wie Anm. 4), S. 213.
80 Das behauptet Kurt Hager in seinen Erinnerungen, S. 389. Gleichfalls habe Honecker angeordnet, eine Reihe von Filmen aus dem Pro-
gramm einer sowjetischen Filmwoche herauszunehmen. „Er hatte mich übergangen und seinen Entschluss durch Egon Krenz dem Minister
für Kultur übermittelt.“
81 König (wie Anm. 4), S. 213. Betroffen vom Verbot waren 187 000 Abonnenten in der DDR.
82 Hinter diesem Pseudonym verbarg sich der 1904 in Witebsk geborene Semjon N. Rostowski, er arbeitete vor 1933 als Kader der Kommuni-
stischen Internationale in der KPD und publizierte in den dreißiger Jahren „Hitler über Europa“ und „Hitler gegen die UdSSR“. Die bio-
grafischen Angaben verdanke ich Bernhard Beyerlein.
83 Aus einem Brief des Journalisten Ernst Henri an den Schriftsteller Ilja Ehrenburg vom 30. Mai 1965, in: Sputnik, Heft 10, 1988, S. 138.
Abgrenzung: die SED und Gorbatschows Geschichtspolitik
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die nicht mit der Linie der KPdSU übereinstimmten und in
denen „die Entwicklung in der Sowjetunion ‚als Kasernen-
hofsozialismus‘ bezeichnet“ wurden, sollten nicht „in Pu-
blikationen erscheinen, die in deutscher Sprache bei uns ver-
breitet werden, wie zum Beispiel ‚Neue Zeit‘ und ‚Sputnik‘
u.a.“
78
Als der Sputnik „im zweiten Halbjahr 1988 ver-
stärkt Artikel publizierte, mit denen Honecker und andere
Mitglieder des Politbüros nicht einverstanden waren, wurde
dem ZK der KPdSU mehrfach mitgeteilt, dass die SED das
künftig nicht mehr dulden werde“.
79
Am 19. November 1988
folgte der Drohung das Verbot: Honecker wies an,
80
das Ma-
gazin „von der Liste des Postzeitungsvertriebs der DDR“
81
zu streichen. Anlass war ein Dossier „Stalin und der Krieg“
im Oktoberheft, das einen Einblick bot in die schmerzhafte
russische Debatte über Stalins Politik vor dem Kriegsbeginn
1941. Nun wurden lange tabuisierte Fragen gestellt: Warum
wurde die Sowjetunion vom „Überfall“ Hitler-Deutsch-
lands überrascht, obwohl es genügend Warnungen vor dem
Angriff gegeben hatte, und wer verantwortete die verhee-
renden Niederlagen der Jahre 1941 und 42, die Millionen
russischen und ukrainischen Soldaten und Zivilisten das Le-
ben gekostet hatten. Ernst Henri
82
zählt sechs gravierende
Fehler in der internationalen Politik Stalins und gegenüber
der sowjetischen Armee zwischen 1937 und 1941 auf, die zu
der nationalen Katastrophe von 1941 führten:
„1. Zerschlagung des Kommandeurbestands der
Roten Armee kurz vor dem Krieg. 2. Vereitelung der anti-
faschistischen Aktionseinheit der Arbeiterklasse imWesten.
3. Stalin räumt Hitler die Chance ein, vor dem Überfall auf
die Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien auszu-
schalten und die USA zu neutralisieren. 4. Verzicht auf eine
ernsthafte Stärkung der sowjetischen Verteidigung in den
voraussichtlichen Richtungen des bevorstehenden Vormar-
sches der Wehrmacht. 5. Diskreditierung der westlichen
kommunistischen Parteien durch den Befehl von 1939, die
antifaschistische Bewegung aufzugeben. 6. Stalin ermög-
lichte es Hitler, die Sowjetunion zu überrumpeln, obwohl
mehrere glaubhafte Warnungen vorlagen.“
83
Der zweite Fehler lag zehn Jahre zurück und Hen-
ri wich der Frage nicht aus: „Hätte es ohne Stalin Hitler ge-
geben?“ Seine Ausführungen berührten damit unmittelbar
Trotz des ständigen, die Produktion von Druckmedien behin-
dernden Papiermangels waren die Einwohner der DDR ein Volk
von Zeitungs- und Zeitschriftenlesern: Drei von vier Haushalten
hatten eine SED-Bezirkszeitung abonniert. Das Foto zeigt eine
wie zu DDR-Zeiten eingerichtete Wohnung in einem Plattenbau
in Hellersdorf mit der Zeitschrift „Guter Rat“. Auch die Zeit-
schrift „Sputnik“ traf auf ein großes Leseinteresse.
Foto: SZ-Photo,
Rolf Zöllner
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