Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 215

Abgrenzung: die SED und Gorbatschows Geschichtspolitik
Einsichten und Perspektiven 4 | 13
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14 Ebd., Bl. 173.
15 Thesen des ZK der KPdSU vom 23. Mai 1988 zur 19. Unionsparteikonferenz, in: Die Zukunft der Sowjetunion. Die Debatte auf der Partei-
konferenz der KPdSU vom 28. Juni -1. Juli 1988, Köln 1988, S. 460.
16 Reinhold Andert/Wolfgang Herzberg: Der Sturz. Erich Honecker im Kreuzverhör,
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Berlin und Weimar 1991, S. 64.
17 Ebd., S. 64.
18 Vgl. Vermerk über ein Gespräch des Ersten Sekretärs des ZK der SED, Erich Honecker, mit dem Mitglied des Präsidiums und Sekretär des
ZK der KPC, Vasil Bilak, ebd., Bl. 155.
19 König (wie Anm. 4), S. 67.
20 Michail Gorbatschow: Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution, Köln 1987, S. 91
der Parteigeschichte der deutschen Kommunisten zu blo-
ckieren. Die Diskussion um die Parteigeschichte führte
Hager und Jakowlew zum Kern ihrer Parteidoktrin, zum
ideologischenWahrheitsmonopol auf dem der totalitäre po-
litische Machtanspruch der Partei gründete. Hager polemi-
sierte gegen die in Moskau öffentlich vertretene Position,
dass niemand ein Monopol auf die Wahrheit habe. „Damit
werde doch ein fester, klassenmäßiger Standpunkt ersetzt
durch eine Relativierung, die letztlich dazu führt, dass nie-
mandmehr Recht hat.“ Jakowlew antwortete: „Du legst den
Nachdruck auf das Monopol, ich hingegen auf die Wahr-
heit.“ Hagers Replik war die eines Gläubigen: Wir dürfen
„an der Wahrheit des Marxismus-Leninismus, an der ‚Rich-
tigkeit unserer Weltanschauung‘, wie Lenin sagte, keinen
Zweifel lassen“.
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Wenige Monate später erklärte das ZK der
KPdSU: „Das charakteristische Merkmal unserer Zeit ist
die Herausbildung eines realen Meinungspluralismus und
die offene Gegenüberstellung von Ideen und Interessen.“
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Öffentlich gab es keine kontroversen Debatten
zwischen SEDund KPdSUüber ihre Geschichte. Honecker
räumte später ein, dass es zwar unter den Parteihistorikern
Debatten gegeben habe, „dass nun auf einmal alles falsch
sein sollte, was natürlich für einenKommunisten, besonders
einen, der wissenschaftlich tätig war, sehr schwer begreifbar
gewesen sei; dass zum Beispiel die Kollektivierung falsch
gewesen sein sollte“.
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Es lag aber auch an der Kommuni-
kationskultur der Parteien und Generalsekretäre unterein-
ander. Honecker behauptete, dass er mit Gorbatschownicht
diskutiert habe, „wir haben uns nur informiert. Wir haben
Stellung genommen zur Internationalen Lage und zu den
Problemen der Gewährleistung der Sicherung des Friedens,
über die nächsten Schritte. Aber das war früher auch schon
so“.
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Für Hermann Axen war die Lage der DDR an der
Westgrenze des sozialistischen Lagers ein gewichtiger
Grund, offene Debatten über die Parteigeschichte zu ver-
meiden. Der „Gegner“ würde sich über eine „Polemik der
SED mit der KPdSU freuen, die bei einer weiteren Verbrei-
tung bestimmter Publikationen in der DDR unvermeidbar
wäre“.
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Das Ende der kommunistischen
Weltbewegung
Auf der Moskauer Tagung der Generalsekretäre der kom-
munistischen Parteien der Mitgliedstaaten des RGW im
November 1986 verabschiedete sichGorbatschow vomAn-
spruch Moskaus, die längst nicht mehr existierende einheit-
liche kommunistische Weltbewegung, zu führen. Den ver-
sammelten Parteiführern erklärte er, „dass sich die KPdSU
nicht mehr anmaßen werde, über den politischen Weg einer
Bruderpartei ein Urteil zu fällen. Jede Partei habe das Recht
auf souveräne Entscheidung über die Entwicklungsproble-
me ihres Landes, sie sei nur vor dem eigenen Volk verant-
wortlich und nur die Praxis könne der Prüfstein sein, ob ei-
ne Partei dieser Verantwortung nachkomme oder nicht.
Niemand könne eine besondere Rolle in der sozialistischen
Gemeinschaft beanspruchen.“
19
Seine Rede zum 70. Jahres-
tag der Oktoberrevolution enthielt die gleiche Botschaft:
„Die Zeiten der Komintern, des Informationsbüros und
selbst die Zeiten bindender Beratungen sind vorbei. […] Al-
le Parteien sind restlos und unumkehrbar selbstständig.“
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Damit hatte die KPdSU ihre ideologische Führungsrolle im
sozialistischen Lager aufgegeben und die Eigenständigkeit
der kommunistischen Parteien anerkannt. War bislang der
Kurs der sowjetischen Führungsmacht die Leitlinie der Par-
teien an der Macht, so bekamen nun die Interessen der Be-
völkerung der einzelnen Länder eine qualitativ andere Be-
deutung für die Legitimation kommunistischer Parteiherr-
schaft; war sie doch nun nicht mehr der Zentrale inMoskau,
sondern ihrem Volk verantwortlich.
Nach Rückkehr von dieser RGW-Tagung berichte-
te Honecker seinem Zentralkomitee über diese neue „hi-
storische“ Moskauer Linie. Für den Generalsekretär der
SED war das Prinzip der Selbststständigkeit der Parteien
von besonderer Bedeutung, von Gorbatschows Begrün-
dung für diesen Kurs, dem dramatischen technologisch-
ökonomischen Rückstand der sozialistischen Staaten ge-
genüber dem Westen, sprach er nicht. Auf das Prinzip der
Eigenständigkeit berief sich aber die SED in den nächsten
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