Magazin Einsichten und Perspektiven (Ausgabe 4/13) - page 218

wichtiger „Wendepunkt“ in der Geschichte der deutschen
Arbeiterbewegung und „für unser Volk.“
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Der Subtext die-
ses Satzes hieß: Die Gründung der KPD und nicht der Sieg
der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg legte den Grund-
stein für die Existenz der DDR.
Lebensgeschichtlich war für Honecker Ernst Thäl-
mann das Idol seiner Zeit als Jungkommunist, er trat „in die
Partei Thälmanns“
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ein. Der Thälmann-Kult wurde in der
KPD 1929 auf ihrem XII. Parteitag eingeführt. „Der Perso-
nenkult, der von nun an mit Thälmann getrieben wurde,
suchte es demder Nazis gleich zu tun. Thälmann – der ‚Füh-
rer des deutschen Proletariats’, Thälmann auf jedem Pla-
kat …“
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, beschrieb es der Zeitzeuge Ossip Flechtheim.
1946, kurz vor Gründung der SED, erneuerte der
KPD-Vorsitzende Wilhelm Pieck diesen Kult um Thäl-
mann, der 1944 im KZ Buchenwald ermordet worden war.
Pieck ehrte ihn als Opfer im antifaschistischen Kampf und
als Freund der Sowjetunion, um die Deutschen in der SBZ
zu überzeugen, „daß die Erhaltung und Festigung der
Freundschaft mit der Sowjetunion eine Lebensfrage unse-
res deutschen Volkes ist“.
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Das war die Linie, unter der die
SED in der SBZ antrat und die zum Kompass ihrer Politik
beim Aufbau ihres Teilstaates werden sollte. 1946 setzte
Pieck mit Thälmann eine Traditionslinie für die Einheits-
partei; die Freie Deutsche Jugend (FDJ) sang unter ihrem
Vorsitzenden Erich Honecker: „Thälmann und Thälmann
vor allem, Deutschlands unsterblicher Sohn, Thälmann nie-
mals gefallen. Stimme und Faust der Nation.“
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Auch in der Sowjetunion waren unzählige Betrie-
be, Straßen und Plätze nach dem ermordeten KPD-Vorsit-
zenden benannt. Schon 1925 war Thälmann zum Ehren-
mitglied des Moskauer Stadtsowjets ernannt worden. Als in
der Sowjetunion die Diskussion um die Stalin-Periode be-
gann, ließ Honecker in Moskau ein Denkmal für Thälmann
errichten. Es war sein Beitrag zuGorbatschows Geschichts-
politik. Er sah in dem Denkmal einen „Ausdruck der uner-
schütterlichen Bande, die die SED und die KPdSU, die
DDR und die Sowjetunion verbinden“.
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Gorbatschow be-
stätigte seine Sicht scheinbar, als er bei der Einweihung sag-
38 Thesen (wie Anm. 36), S. 15.
39 Erich Honecker: Aus meinem Leben, Berlin (Ost) 1982, S. 23–32.
40 Ossip K. Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik, Mit einer Einleitung von Hermann Weber, Frankfurt am Main 1969, S. 256.
41 Wilhelm Pieck. Zum Gedenken an Ernst Thälmann, April 1946, zitiert nach: Wilhelm Pieck: Reden und Aufsätze, 3 Bände, Bd. 1, Berlin
(Ost) 1950, S. 488.
42 Kuba: Thälmannlied, in: Leben Singen Kämpfen. Liederbuch der deutschen Jugend, Berlin (Ost) 1958, S. 58.
43 Rede von Erich Honecker auf dem Meeting zur Einweihung des Denkmals für Ernst Thälmann in Moskau am 3. 10. 1986, SAPMO-BArch,
DY 30/11361, Bd.3, Bl. 200.
44 Rede von Michail S. Gorbatschow am 3. 10. 1986 anlässlich der Einweihung des Denkmals für Ernst Thälmann, ebd., Bl. 216.
45 Die Rote Fahne, Berlin, 30.5.1928, zitiert nach: Internationale Abteilung des ZK der SED: Kurztexte von Ernst Thälmann über die Sowjet-
union, SAPMO-BArch, DY 30/11361, Bd. 3, Bl. 89.
46 Thesen (wie Anm. 36), S. 21.
47 Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Abriß, ebd., S. 48.
48 F. I. Firsow: Stalin und die Komintern, in: Die Komintern und Stalin, ebenda, S. 81.
49 Thesen (wie Anm. 36), S. 5.
Abgrenzung: die SED und Gorbatschows Geschichtspolitik
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te: „Ernst Thälmann träumte vom Sozialismus auf deut-
schem Boden. Heute ist der Sozialismus in der DDR Wirk-
lichkeit, und das ist die beste Rechenschaft, die die deut-
schen Werktätigen Ernst Thälmann geben konnten.“
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Auf Anweisung von Honecker wurde eine Reihe
von Thälmann-Zitaten zum Verhältnis der KPD zur So-
wjetunion vor 1933 zusammengestellt. Eines lautete: „In
dem wir die Sowjetunion verteidigen, verteidigen wir unser
Vaterland, unsere Zukunft, die Freiheit und den Sozialis-
mus.“
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Die aktuelle politische Botschaft des Denkmals war
aber die Mahnung an die KPdSU: Vergesst nicht die bedin-
gungslose Solidarität Thälmanns mit Stalins Sowjetunion.
Die „Thesen“ von 1988 setzten den Kult fort: „Der
wichtigste Schritt auf dem Entwicklungswege der KPDwar
die Formierung des Thälmannschen Zentralkomitees im
Jahre 1925.“
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Diese Wertung stand schon im 1976 erschie-
nenen „Abriss“ der Geschichte der SED, nur: ein wichtiger
Nebensatz fehlte diesmal: „die nach langen Auseinander-
setzungen und mit Hilfe der Kommunistischen Internatio-
nale erfolgte“.
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Auf Einzelheiten verzichtete man schon
1976. Die Beteiligung der Führung der Komintern am Auf-
stieg Thälmanns zumKPD-Vorsitzenden war schon damals
ein „weißer Fleck“ in der Parteigeschichte. Der russische
Historiker Firsow konnte belegen, dass 1925 Stalin als Men-
tor für Thälmann auftrat, er empfahl der Spitze der Komin-
tern in der KPD „Kurs auf die Arbeitergruppe um Thäl-
mann zu nehmen“.
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Die aktive Mitwirkung Moskaus an
dieser „Formierung“ wurde nun von der SED endgültig aus
der Geschichte der KPD getilgt.
Die „Kardinalfrage“ der SED-Politik 1988
Die Thesen stellen die 40-jährige Geschichte der DDR als
die „schöpferische Verwirklichung des revolutionären Pro-
gramms“ dar, „das vor sieben Jahrzehnten die Gründer der
Kommunistischen Partei Deutschlands erarbeiteten“,
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Ho-
neckers Bezeichnung der SED als „Thälmannsche Partei“
ist dabei ein Schlüssel zum Verständnis der Thesen. Dieses
Etikett erfüllte mehrere Funktionen:
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