ußten Sie schon, daß
13- bis 15jährige Bu–
ben häufiger Kartof–
feln essen als 9- bis
12jährige? Daß viele Schüler–
gaumen Grieß verabscheuen?
Daß die Kinder in Kassel lie–
ber Kuchen essen als die Kin–
der in Bremen?
Das behauptet nicht ir–
gend jemand, sondern ein
Pädagoge, Psychologe und
Psychopathologe,
nämlich
Professor Dr. phil. Walter
Bachmann, Lehrstuhlinhaber
für Erziehungswissenschaften
weiß, wer wann,
morgens, mittags
oder abends den größten
Hunger hat. Ihm liegen die
Abstimmungsergebnisse für
oder gegen Brot und Bröt–
chen, für oder gegen Kuchen,
Torten, Süßigkeiten aus 17
Schulen vor. Schwarz auf
weiß hat er's, daß Kinder
- vor die Wahl gestellt - lie–
ber zu den Zuckersachen
greifen als zum täglich' Brot.
Sogar auf den weithin in Ver–
gessenheit geratenen Grieß
konzentrierte sich sein For–
scherfleiß. Und siehe da:
im hessischen Gießen.
--···--.r.r•auptschüler essen signifi–
kant häufiger Grieß als Gym–
nasiasten. "
Der Professor meldet auch
das Sensationsergebnis, daß
in Kassel jeder zweite lern–
behinderte Schüler Käse ab–
lehnt. Gemeint ist nicht der
Käse; der manchmal geschrie–
ben wird, sondern das be–
kannte Molkereiprodukt Die
Ermittlung der Käseablehnung
hält der Wissenschaftler für
ein bedeutsames Forschungs–
ergebnis. Er merkt an: "Hoch
signifikant." So richtig hoch
signifikant wird der Kasseler
Käse erst durch Vergleichs- ·
zahlen aus Bremen . Dort
lehnt nämlich nur jeder vier–
te Schüler Käse ab.
Selbstverständlich begrenzt
Prof. Bachmann seinen Inter–
city-Vergleich nicht auf Käse
und Kuchen. Er hat sich auch
um den Verzehr von Joghurt
und Quark, von Tomaten und
Hülsenfrüchten gekümmert.
Er
hat sich überhaupt viel
Mühe gemacht. Tausende
von Fragebögen hat er aus–
gewertet und ist jetzt Exper–
te auf dem Gebiet schulkind–
licher Nahrungsaufnahme. Er
Die Fülle solchen Wissens
gestattete ihm, ein Buch mit
127 Seiten Text und 199 Sei–
ten Anhang zu
verfassen . Es
heißt "Ernäh–
,rungsverhalten
von Schülern ",
im Untertitel:
"Wer weiß schon, was Kin–
der gerne essen?"
Ja, wer weiß das schon .
Wer vermochte bisher den
Unterschied zwischen 6- bis
8- und 9- bis 12jährigen
Mädchen anzugeben, den
Verzehr von Salat und Kohl
betreffend? Schlag nach bei
Bachmann : Der Unterschied
ist "nicht signifikant" . Zuwei–
len aber werden dumpfe Ah–
nungen bestätigt, zum Bei–
spiel im Anhang auf Seite149:
" Die 13- bis 15jährigen Mäd–
chen geben signifikant öfter
im, Geld für Kleider auszu–
geben, als die 6- bis 8jähri–
gen. " Ein Glück, daß diese
Erkenntnis jetzt endlich wis–
senschaftlich gesichert ist!
Wer nun dank Bachmann
weiß, was welche Kinder
wann und wo gerne essen,
der verfügt über eine " Ent–
scheidungshilfe" bei der Zu–
bereitung von Mahlzeiten in
der Ganztagsschule. Denn
um sie geht es letztlich, und
Professor Bachmann ist ein
entschiedener
Befürworter
der Ganztagsschule mit Ge–
meinschaftsverpflegung. Über
das Essen, das den Kindern
zu Hause serviert wird, kann
der Professor nur die Nase
rümpfen . Richtet sich doch
innerhalb der Familie das Es–
sen immer noch nach vor–
industriellen Normen.
Mütter und Hausfrauen,
prüft in Zukunft gewissen–
haft, ob ihr nicht vielleicht
unversehens nach vorindu–
striellen Normen und Rezep–
ten Großmutters Weihnachts–
stollen und Silvesterkrapfen
backt oder sonstige kalorien–
reiche Kost der Vorfahren .
Die "individuelle Würzung "
der Speisen könnte schreckli–
che Folgen haben . Man den–
ke, was geschieht, wenn der
Nachwuchs aus purer vorin–
dustrieller
Geschmäcklerei
.kein Gefallen findet an den
industriell gefertigten Schü–
lermenüs der Ganztagsschu–
le. Diese fortschrittliche Ein–
richtung mitsamt ihrer Kol–
lektiv-Atzung ist in Gefahr,
an einer ganz reaktionären
Klippe zu scheitern: an den
ungleichen Geschmacksner–
ven der Kinder. Diese sind
nämlich leider noch immer
frappierend individuell.
Bachmanns Forscherfleiß
mußte seine " wohl in–
teressanteste Aussa–
ge" in der Feststel–
lung finden , daß die
Schüler nicht alle das
gleiche mögen. Gymna–
siasten leisten sich einen an–
deren Geschmack als Haupt–
schüler oder Sonderschüler.
Sie scheuen nicht davor zu–
rück, sich "signifikant häufi–
ger" mit Brot zufrieden zu
geben . Sonderschüler hinwie–
derum nehmen sich heraus,
"am Morgen signifikant den
weitaus größeren Hunger" zu
haben, indes Gymnasiasten
abends der Magen knurrt.
Viele weitere ebenso auf–
schlußreiche Ergebnisse ver-
anlassen den Forscher zu
Folgerung, ,rdaß ,it den so–
ziokulturellen, d. h. schicht–
spezifischen
Unterschieden
der einzelnen Schulformen
ernäh ru ngsphysiologi sehe
bzw. soziobialogische Unter–
scheidungsmerkmale der Be–
völkerungsschichten einher–
gehen ". Auf gut Deutsch:
Nicht einmal für die Ge–
schmacksnerven gibt es irr
Spätkapitalismus
Chance1
gleichhei
t.
Irgendwo fragt sich der
Professor, ob seine Arbeit als
Mahlzeitforscher lohnend ge–
wesen sei. Aber gleich tröstet
er sich, indem er die Bedeu–
tung der Ernährungserzie–
hung und der Ganztagsschu–
le in Rechnung stellt. Doch
warum dieser momentane
Anfall von Selbstkritik und
Zweifel? Die Schüler der 17
untersuchten Schulen hätten
noch viel seltsamere Frage–
bögen ausfüllen können . Der
Professor hätte zum Beispiel
seine gewiß kostbare Zeit
der nicht minder köstlichen
Frage widmen können, wer
denn eigentlich eine "signi–
fikante " Vorliebe für das
Ping-Pong-Spiel hat - die 12-
jährigen Gymnasiasten
Cuxhaven oder die 13jähri–
gen Sonderschüler in Mön–
chengladbach? Auch die Fra–
ge, ob eine 11jährige Haupt–
schülerin aus Salzgitter ihre
Comics "signifikant" rascher
verschlingt als ein gleichaltri–
ger Hauptschüler aus Trier,
brennt den Eitern aus Mühl–
dorf am lnn schon lange auf
den Nägeln.